HEIMKEHRER

Als ich aus dem ,Siedlungslager‘ in Posen mit anderen Kriegsgefangenen ins Gefangenenlager nach Küstrin verlegt wurde, nährte das meine Hoffnung auf baldige Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft. Sicher, so hoffte ich, sei meine Jugend der Grund, dass ich schon im Herbst 1945 entlassen wurde, denn ich war ja gerade erst 17 Jahre alt geworden. In Wirklichkeit war es aber die offene Wunde an der rechten Wade, die den Ausschlag dafür gab, dass ich Entlassungskandidat wurde. Doch meine Geduld wurde noch auf eine harte Probe gestellt. Tag um Tag verging, ohne dass sich etwas tat. Zwar gab es hin und wieder Entlassungen, doch meine Kameraden und ich waren nie dabei.

Das Lager, in dem wir uns befanden, bestand aus alten Wehrmachtsbaracken. Mit etwa zwanzig anderen war ich in einem der Barackenräume untergebracht. An einer Wand waren Pritschen in zwei Etagen errichtet, auf denen wir uns unser Lager bereitet hatten. Ich hatte mich an einer Seite auf der oberen Etage häuslich niedergelassen. Meistens lag ich auf der Pritsche, träumte von der Zukunft, malte mir meine Freiheit aus und wartete immer sehnsüchtiger auf den Tag meiner Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft.
Auf hölzernen Bänken saßen viele der anderen Mitgefangenen an dem langen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und spielten Karten, um sich die Langeweile zu vertreiben. Dabei wurde um hohe Summen des Geldes gespielt, das die Gefangenen noch aus ihrer Soldatenzeit besaßen und von dem sie glaubten, dass es wertlos sei. Viele benutzten es auch auf der Latrine zum Arschwischen.
Ich hatte mir – vielleicht aus dem Grund, das Gefühl zu haben, reich zu sein – eine ansehnliche Zahl von Geldscheinen zusammengesammelt. Als ich dann nach Hause kam und feststellte, dass sie noch als Zahlungsmittel galten, ärgerte ich mich sehr, so doof gewesen zu sein, nicht noch mehr davon eingesammelt zu haben.
Doch noch lag ich auf meiner harten Pritsche im Gefangenenlager und wartete.
Endlich, wir glaubten der Mitteilung zuerst gar nicht, weil wir schon zu oft gefoppt worden waren, war es auch für uns so weit. Es war ein sonnig-warmer Tag Anfang September 1945, als es hieß: „Die Gefangenen von Block C treten sofort mit all ihren persönlichen Sachen auf dem Appellplatz an!“ Der sowjetische Lagerkommandant gab offiziell bekannt, dass für die angetretenen Gefangenen heute ihr Entlassungstag sei. Danach wurde bekannt gegeben, was weiter zu tun sei.
Als erstes mussten wir uns nackt ausziehen und all unser Hab und Gut zur Entlausung bringen. Dann traten wir nach dem Alphabet an. Ich stellte mich also in die Reihe, die sich vor dem auf Pappe geschriebenen Buchstaben ,K‘ gebildet hatte. An einem Tisch saßen ein sowjetischer Soldat und ein Dolmetscher. Dort wurden die Personalien jedes einzelnen aufgenommen und der Ort erfragt, wohin man entlassen werden wollte. Da es sich in der Zwischenzeit herumgesprochen hatte, dass niemand in die westlichen Besatzungszonen entlassen wurde, gab jeder als Zielort eine Gemeinde in der sowjetischen Besatzungszone an, was auch akzeptiert wurde, weil es ja doch nicht zu kontrollieren war. Mein Zielort war meine Heimatstadt Guben!
Nachdem der Schreibkram erledigt war, gingen wir zum Duschen und Haarschneiden. Zu meinem Leidwesen konnte ich es nicht verhindern, dass meine Haare, die in den letzten Wochen schon wieder beachtlich gewachsen waren, am Ende der Gefangenschaft noch mal gänzlich abgeschnitten wurden.
Dann begann die gesundheitliche Untersuchung. Es sollte festgestellt werden, ob wir auch entlassungstauglich sind. Eine Ärztin und ein Sanitäter führten die Untersuchung durch. Das brauchte seine Zeit, denn hier wurde sehr gründlich vorgegangen. Es war ein recht komisches Bild, die vielen nackten Männer auf dem Platz herumlungern zu sehen, und es war gut, dass die Sonnen so schön schien, denn im Regen hätten wir dieses Zeremoniell nicht über uns ergehen lassen wollen.
Nach und nach bekamen wir unsere Sachen aus der Entlausung zurück, so dass wir uns wieder ankleiden konnten. Dann wurden wir aufgerufen, unsere Marschverpflegung in Empfang zu nehmen. Für jeden gab es ein viertel Kommisbrot, zirka 200 Gramm Roggenschrot, 50 Gramm ungemahlenen Malzkaffee und etwas Salz.
Der Tag neigte sich schon dem Abend zu, als endlich jeder von uns seinen Entlassungsschein erhielt. Der Propusk, wie er auf russisch genannt wurde, war ein Stück graues Packpapier, auf dem handschriftlich mit lila Tinte in kyrillischen Buchstaben die jeweiligen Personalien, der Entlassungstag und der Zielort vermerkt waren. Seine Bedeutung wurde durch eine markante Unterschrift und einen großen Stempel dokumentiert.
So ausgestattet marschierten wir, etwa 100 Gefangene, zur Oder. Dort beendeten die Sowjets die Entlassungszeremonie damit, dass sie uns mit der Fähre übersetzten und wir als freie Bürger in Küstrin-Kietz den Boden der sowjetischen Besatzungszone betraten. Obwohl wir alle den ganzen Tag auf den Beinen gewesen waren, gönnte sich keiner von uns eine Ruhepause. Wir marschierten die ganze Nacht, nur, um den Abstand zwischen uns und dem Gefangenenlager so groß wie möglich zu machen. Der Grund für unsere Angstpsychose war das Gerücht, dass die Sowjets, wenn die Zahl ihrer Gefangenen, egal aus welchem Grunde, nicht stimmte, die Fehlmenge dadurch ausglichen, dass sie einfach Zivilisten gefangen nahmen. Gerade entlassen, wollte jeder von uns einem solchen Schicksal unter allen Umständen entgehen.
Auch ich scheute keine Anstrengungen und marschierte auf der Straße nach Seelow durchs Oderbruch, solange mich meine Beine trugen. Etwa 4 Kilometer vor Seelow legte ich mich gegen 3.00 Uhr früh für ein paar Stunden aufs Ohr. In der Nähe eines Gehöfts, das durch die Kämpfe um die Seelower Höhen völlig zerstört war, und dessen Bewohner sich in einer Erdhöhle eine notdürftige Unterkunft geschaffen hatten, rollte ich meine Zeltbahn aus. In meine Felljacke eingekuschelt ruhte ich ein paar Stunden und schöpfte Kraft für den kommenden Tag. Die Morgenkühle weckte mich beizeiten. Als die aufgehende Sonne die Nebelschwaden, die über dem Bruch lagen, vertrieben hatte, konnte ich sehen, dass hier eine grausame Schlacht getobt hatte. Die Felder waren durch eine Unmenge Krater zu einer Mondlandschaft umgepflügt. Viele Grabhügel deuteten darauf hin, dass ungezählte sowjetische und deutsche Soldaten in einem unsinnigen Kriegsgemetzel noch ihr Leben sinnlos opfern mussten. Große Mengen Panzerwracks und zu Schrott gewordenes Kriegsmaterial lagen herum. Dass auch noch eine Unmenge scharfer Minen und anderer Blindgänger im Boden steckten und vielleicht für Jahrzehnte das Leben der Menschen bedrohte, die hier wohnten und arbeiteten, konnte man nur erahnen.
Das Grauen des gerade zu Ende gegangenen zweiten Weltkrieges noch einmal vor Augen, machte ich mich wieder auf den Weg, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Guben erwartete. Von vagen Berichten wusste ich nur, dass meine Heimatstadt durch Kriegseinwirkungen auch sehr in Mitleidenschaft gezogen und stark zerstört wurde. Ich wusste auch nicht, ob meine Eltern noch lebten, unser Haus noch stand und unsere Wohnung noch existierte.
Der Stand der Sonne zeigte den frühen Vormittag an, als ich mit dem Strom der anderen Heimkehrer Seelow erreichte. Kurz vor dem zerstörten Seelower Bahnhof stand auf der linken Straßenseite ein Bauer händeringend an seinem Kartoffelacker und versuchte die Landser davon abzuhalten, ihm seine Kartoffeln auszubuddeln.
V e r g e b l i c h ! ! !
Jeder Heimkehrer, der vorbeiging, betrat das Feld, um 2 bis 3 Stauden herauszureißen und sich die Kartoffeln mitzunehmen. Auch ich holte mir meine Handvoll neuer Kartoffeln, ohne mich um das Gejammer des Bauern zu kümmern. Der Appetit auf frische Kartoffeln verdrängte jeden Skrupel. In Seelow bereitete ich mir mein Frühstück. Von einer öffentlichen Pumpe, an der schon eine lange Schlange anstand, holte ich mir Wasser und kochte die neuen Kartoffeln. Mit etwas Salz bestreut verzehrte ich sie mit Hochgenuss, so, wie andere unter besseren Umständen Sekt und Kaviar genießen würden.
Frisch gestärkt marschierte ich wieder los. Hinter Seelow traf ich einen Heimkehrer, der in Seelow in der Scheune eines Bauern übernachtet hatte. Er wollte auch nach Guben, und so machten wir uns gemeinsam weiter auf den Weg in unsere Heimatstadt. Als wir zirka 12 Kilometer gelaufen waren, trafen wir beim Bahnhof Schönfließ einen alten Bauern, der gemeinsam mit seinem Nachbarn auf einem Ackerwagen, den ein klapperiger Zosse zog, in Richtung Frankfurt/Oder unterwegs war. Freundlich gestattete er uns, ein Stück mitzufahren. Die beiden Bauern sprachen während der Fahrt über die Sorgen, Nöte und Ängste, die sie hatten. Dabei hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas von bolschewistischer Kollektivierung. Die Bauern fürchteten sie sehr, weil sie durch sie ihre persönliche Freiheit und ihre bäuerliche Existenz bedroht sahen. Bei Wüste Kunersdorf hatten die beiden Bauern ihr Ziel erreicht und für uns war die Fahrt mit dem Pferdewagen zuende. Die relativ kurze Strecke bis Frankfurt/Oder bewältigten wir ohne große Anstrengungen. Dort angekommen, führte unser Weg an der Ragower Mühle vorbei in Richtung der Gaststätte Neue Welt. Dort war ein Schlagbaum errichtet. Ein junger blonder sowjetischer Soldat mit freundlichem Gesicht hielt Wache. Seine Freundlichkeit wurde von einer dienstlichen Miene abgelöst, als er uns beide ankommen sah. Der Soldat befahl uns energisch: „Stoi!“, und seine Forderung nach einem Dokument unterstrich er mit einer gebieterischen Handbewegung.
Ich zeigte meinen Wehrpass mit meinem Lichtbild und den Entlassungsschein und konnte passieren. Mein Weggefährte tat das gleiche. Als der Soldat dessen Dokument durchsah, verfinsterte sich ganz plötzlich seine Miene. Wütend drohte er mit der Faust und beschimpfte ihn hasserfüllt: „Du Faschist!“. Diese unerwartete Reaktion des sowjetischen Soldaten war nur zu verständlich, denn im Soldbuch des anderen Gubeners befand sich noch die erste Seite mit dem Hitlerbild. Dem wachhabenden Rotarmisten zitterten vor Erregung die Hände, als er das Bild heraustrennte und das Konterfei des ärgsten Feindes seines Volkes ungestüm in kleine Stücke zerriss. Dann erklärte er uns beiden energisch: „Hitler kaputt! Krieg kaputt!“ und mit „Dawei, Dawei!“ forderte er uns auf, schnell zu verschwinden.
Jeder wird verstehen, dass ich mich sofort von diesem Blödmann trennte. Ich hatte wirklich keine Lust, wegen eines solchen Idioten wieder in Gefangenschaft oder in eine noch viel schlimmere Lage zu geraten. (Um so erstaunter war ich, als ich diesen vertrottelten Kerl später als Mitarbeiter der Gubener Stadtverwaltung wiedertraf.)
Wieder allein, suchte ich mir in der Gubener Straße in Frankfurt in einer verlassenen Villa in einem Erkerzimmer ein Plätzchen zum Ausruhen und zum Übernachten.
Am Morgen des nächsten Tages bereitete ich mir mit anderen Heimkehrern auf dem Hof einer in der Nähe befindlichen Schule auf einem Metallbettgitter über dem Feuer meinen Kaffee, aß ein Stück Kommissbrot und begab mich wieder auf den Weg nach Hause.
Von anderen hatte ich erfahren, dass manchmal ab Brieskow-Finkenheerd ein Zug bis nach Neuzelle fährt, weil auf dieser Strecke die Brücken noch ganz waren. Dort angekommen, kletterte ich beim Kraftwerk die Bahnböschung hinauf, um mich zu erkundigen.
Ich hatte Glück!
In etwa ein und einer halben Stunden sollte ein Zug fahren. Die verbleibende Zeit nutzte ich, um die Umgebung zu erkunden. Dabei entdeckte ich zufällig die Finkenheerder Konserven- und Marmeladenfabrik. Die dort tätigen Arbeiterinnen erkundigten sich, wo ich herkomme und wo ich hin will, und schenkten mir, weil sie Mitleid mit mir jungem Burschen hatten, der zu guter Letzt noch Soldat werden musste, zwei Gläschen Marmelade. Genießerisch verputzte ich sie sofort. Die Arbeiterinnen waren glücklich darüber, mir Heimkehrer eine Freude gemacht zu haben. Zufrieden schmunzelnd nahmen sie die beiden Gläser zurück, als ich mich zum Abschied noch einmal herzlich bei ihnen bedankte.
Die Fahrt im Zug – als Heimkehrer brauchte ich keine Fahrkarte – hätte ruhig länger dauern können. Aber als ich in Neuzelle aussteigen musste, weil der Zug hier Endstation hatte, war ich auch so zufrieden, denn ich brauchte gute 25 Kilometer nicht zu laufen. Nun dauerte es nicht mehr lange, und ich war zu Hause. Ich schritt tüchtig aus. Als ich den Berg von der Abdeckerei nach Bresinchen hinunterging, kamen mir zwei Frauen entgegen. Sie schoben ihre Fahrräder, Gartenschläuche als Bereifung, den Berg hinauf. Als sie hörten, dass ich nach Guben wollte, charakterisierten sie kopfschüttelnd die beginnende neue Zeit mit den Worten: „Na, in Guben ist vielleicht was los. Da haben die Russen einen Schmied zum Bürgermeister gemacht. Schwarz, oder so ähnlich, soll er heißen.“
Endlich hatte ich meine Heimatstadt erreicht. Schon in der Kupferhammer Straße, in der fast noch alle Häuser heil geblieben waren, begann der Druck der Ungewissheit von mir zu weichen. Je mehr ich mich der Grünstraße näherte, um so zuversichtlicher wurde ich.

Blick in die Grünstraße, das Haus in Hintergrund ist die Nr. 1
Als ich den Bahnhofsberg hinunterkam und in die Berliner Straße einbog, hätte ich jubeln können; die Molkerei stand noch und auch die Bäckerei Stiller und die Fleischerei Steinke waren noch vorhanden. Auch die Gaststätte Stadtwappen existierte unversehrt und sogar die Litfass-Säule stand noch an der Ecke zur Grünstraße. Als ich in die Grünstraße einbog, begann mein Herz vor Aufregung an zu rasen. Aber die Spannung löste sich schnell. Unser Haus, das einem Fabrikgebäude ähnlicher sah als einem Wohngebäude, stand noch in seiner ganzen Hässlichkeit und hatte keinen Schaden erlitten.
Diese Hässlichkeit hatte aber auch ihr Gutes gehabt. Plünderer waren an diesem Haus, das wenig Beute versprach, uninteressiert vorübergegangen. So war aus der unversehrten Wohnung nichts weggekommen. Sogar meine Ziehharmonika lag noch wie Eh und Je offen auf dem Schrank in der Wohnstube.
Das größte Glück war für mich aber, dass meine Eltern noch lebten.
Ich war gesund wieder zu Hause. Was die neue Zeit mir bringen würde, wer konnte das damals wisse?
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