STULLENKAUF

In den ersten Nachkriegsjahren war es nichts Ungewöhnliches, dass ich im Betrieb zum Frühstück und zum Mittag statt Stullen ein paar Pellkartoffeln und etwas Salz aus meiner Aktentasche holte. Oder meine Mutter hatte „Kalunschchen“* gebacken, die im Idealfall mit etwas Sirup verfeinert waren, und mir eingepackt.
Auch die Brote, wenn es denn welche gab, waren nicht immer mit Butter oder Margarine bestrichen und mit Wurst belegt. Was den Brotbelag betraf, war meine Muter auch recht erfinderisch. Berühmt war ihre falsche Leberwurst, ein leicht gesalzener Roggenmehlpamps mit Thymian gewürzt.
Deshalb war es für uns eine tolle Sache, als es Anfang Oktober 1947, in Umsetzung des Befehls 234 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland „Über Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten der Industrie und des Verkehrswesens“, auch in unserem Betrieb für die Arbeiter, über die Kartenversorgung hinaus, eine zusätzliche warme Malzeit gab.
Dennoch war ich stets recht neidisch, wenn Günter Hellwig und Joachim Wieder, unsere beiden Lehrlinge aus Groß-Breesen, in der Frühstückspause ihre, mit Butter oder Schmalz beschmierten und dick mit Wurst, Käse oder Schinken belegten, Bauernbrotstullen auspackten und verspeisten.
Mir lief jedes Mal regelrecht das Wasser im Munde zusammen.
Wenn dann diese beiden Bürschchen auch noch anfingen, an den leckeren Stullen herumzumäkeln, und sie halb angebissen wieder in ihre Stullenbüchsen legten, um sie zu Hause vielleicht den Schweinen zum Fraß vorzuwerfen, packte mich jedes Mal die Wut über so viel Undankbarkeit.
„Ihr solltet dankbar sein, das es euch so gut geht. Es ist ja richtig frevelhaft, wie ihr mit eurem Essen umgeht!“, machte ich einmal meinem Unmut Luft.
Daraufhin lachten sie nur und machten mir den Vorschlag: „Wenn du willst, verkaufen wir dir die Stullen, die uns nicht schmecken. Dadurch wird nichts vergeudet und wir verdienen noch etwas dabei!“
Ich ging freudig auf ihren Vorschlag ein. Wir einigten uns darüber, dass ich ihnen für eine halbe Doppelstulle 0,50 Mark bezahle. Dadurch war ihnen und mir geholfen, ich kam fast täglich in den Genuss einer halben, dick mit Wurst belegten Bauernbrotstulle, was in der damaligen Zeit für mich ein außer-ordentlicher Glücksfall war, und sie besserten ein wenig ihr Taschengeld auf.

* Kalunschchen waren auf der Herdplatte ohne Fett gebratene, aus gekochten und gestampften Kartoffeln geformte, flache, handtellergroße Brätlinge
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