DAS GROSSE KLÖSSE–ESSEN

Onkel Willi hatte, als er im Herbst 1947 aus der sowjetischen Gefangenschaft entlassen wurde, unsere Adresse als Heimatort angegeben, denn Sommerfeld war ja polnisch. So wohnte er nun schon einige Wochen bei uns.
„Ein Kamerad, der noch nicht entlassen wurde, hat mir, als er erfuhr, dass ich nach Guben gehe, seine Adresse gegeben und mich gebeten, seine Frau zu besuchen“, erzählte er uns. „Sie wohnt in Schlagsdorf, dass soll hier ganz in der Nähe sein. Ich soll ihr herzliche Grüße ausrichten und ihr mitteilen, dass er gesund ist, es ihm den Umständen entsprechend gut geht und dass er hofft, auch bald entlassen zu werden.“
Als ich ihm zu erklären versuchte, wo Schlagsdorf liegt und wie er am besten dort hinkommt, bat er mich, ihn doch besser zu begleiten.
So machten wir uns beide an einem Sonntagvormittag in der Adventszeit zu Fuß auf den Weg, damit Onkel Willi sein Versprechen einlösen konnte. Wir gingen über die Kaltenborner Berge, am Deulowitzer See vorbei, nach Schlagsdorf.
Es war ein klarer frostiger Dezembertag. Der Waldboden war gefroren. Da und dort lag etwas verharschter Schnee und die Kiefernnadeln waren mit Raureif bepudert. Unser Atem stand uns wie Wrasen vor dem Mund. Endlich im Dorf angekommen, mussten wir uns doch erst noch durchfragen, bis wir die Adresse gefunden hatten. Die Frau des Kameraden wohnte am Rande von Schlagsdorf in einem Ausbau.
Als wir endlich vor ihrer Tür standen, schaute uns die Frau, die uns öffnete, erst einmal abweisend an, glaubte sie doch, wir wollten Kartoffeln hamstern. Als Onkel Willi ihr mitteilte, dass er ein Kamerad ihres Mannes sei und ihr eine Mitteilung überbringen soll, schaute aus ihren Augen die blanke Angst. Vor Aufregung zitternd und auf das Schrecklichste gefasst, bat sie uns ins Haus. Bereits beim Eintreten fragte sie Onkel Willi, und dabei versagte ihr fast die Stimme: „Ist mein Mann gefallen?“
Man sah der abgehärmten Frau an, dass sie mit dem Schlimmsten rechnete. Sie hatte noch in den letzten Kriegstagen die Nachricht erhalten, ihr Mann wäre in den Kämpfen an der Oder als vermisst gemeldet. Da sie seitdem kein Lebenszeichen von ihrem Mann bekommen hatte, war mit der Zeit ihre Hoffnung, er würde noch leben, einer bangen Ungewissheit gewichen.
„Liebe Frau Hanke, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, beruhigte mein Onkel die aufgeregte Frau, wobei er ihr besänftigend die Hand streichelte, „ihr Mann lebt, es geht ihm gut und er hofft, auch bald wieder in der Heimat zu sein. Ich soll ihnen recht liebe Grüße bestellen und ihnen sagen, dass er sich sehr nach seiner Familie sehnt.“
Man konnte körperlich spüren, wie ihr eine große Last von der Seele fiel. Ihre Gesichtszüge hellten sich auf und fast jubelnd rief sie in die Küche, in der eine ältere Frau am Herd hantierte: „Mutter, hast du gehört, Gerhard lebt. Er ist in russischer Gefangenschaft und soll bald entlassen werden. Sein Kamerad hier war mit ihm zusammen und bestellt uns liebe Grüße. Mein Gott, ist das eine freudige Nachricht!“
„Sie glauben gar nicht, wie wir uns freuen“, wandte sie sich wieder an uns, „ein schöneres Weihnachtsgeschenk konnten sie uns gar nicht machen.“
Bald war die ganze Familie in der guten Stube versammelt und lauschte andächtig, was mein Onkel – der gute Kamerad von Gerhard – über Sibirien, die Gefangenschaft, das Lagerleben, den Hunger und die Kälte, die schwere Arbeit in der Kohlegrube, ihre Sorgen und Nöte, aber auch über ihre kleinen Freuden und ihre Wünsche und Hoffnungen berichtete.
Als die alte Wanduhr mit ihrem Westminster-Schlagwerk zur zwölften Stunde läutete, schaute Frau Handke erschrocken auf.
„Wie die Zeit vergeht. Ist ja schon Mittag“, ließ sie sich vernehmen, und an uns gerichtet: „Sie sind schon seit früh auf den Beinen. Sie haben bestimmt Hunger. Bei uns gibt es heute Klöße mit ausgelassenem Speck. Wollen sie ein paar Klöße essen?“
Ohne unsere Antwort abzuwarten, hatte sich die Mutter bereits in die Küche begeben und kam, in der einen Hand eine irdene Schüssel, bergvoll mit leckeren, dampfenden Klößen, und in der anderen Hand ein Tiegelchen mit herrlich duftendem Speck, zurück, um uns zu bewirten.
Bevor Frau Hanke die Teller vor uns hinstellte, hatte sie noch schnell mit ihrem Ärmel über den Tisch gewischt und uns dann aufgefordert: „Greifen sie zu und lassen sie es sich schmecken!“
Ausgehungert, wie wir waren, ließen wir uns nicht lange nötigen und hauten tüchtig rein.

Bald war die Schüssel leer!
Wir kauten noch am letzten Kloß, da stand die Schüssel, erneut bis zum Rand gefüllt, wieder vor uns auf dem Tisch. Wir kamen uns vor wie im Märchen von „... Tischlein deck dich...“.
„Sie brauchen sich nicht zu genieren, es ist noch genug da“, forderte uns die Mutter erneut auf, tüchtig zuzulangen.
Beide Frauen saßen, während wir aßen, mit gefalteten Händen am Tisch und schauten uns mit glücklichen Augen zu, wie wir Kloß um Kloß verspeisten.
Als wir die dritte Schüssel mit Klößen geleert hatten, konnten wir nicht mehr. Wir stellten die Teller übereinander, wischten uns die fettigen Münder, machten heimlich unsere Gürtel um ein Loch weiter und bedankten uns überschwänglich für das leckere Mittagessen.
Obwohl uns die Frauen aus Dankbarkeit immer wieder zum Essen aufgefordert hatten, schämten wir uns nun doch ein wenig. Wir hatten in unserer Fressgier alle Klöße verputzt, so dass die Frauen für die eigene Familie zum Mittag noch einmal neue Klöße machen mussten.
Doch das tat der Freude, die Onkel Willi mit seinen Grüßen bereitet hatte, keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. als wir uns auf den Heimweg machten, drückte uns Frau Hanke noch ein halbes Bauernbrot und ein Glas selbst gemachte Leberwurst in die Hand.
In bester Stimmung machten wir uns auf den Heimweg. In unseren Bäuchen rumpelten die Klöße wie ,Wackersteine‘. Durch das ungewohnt viele Essen bekam ich etwas Sodbrennen. Onkel Willi, der so fettes Essen nicht mehr gewöhnt war, kriegte Durchfall, und musste sich, trotz der Kälte, mehrmals hinter einen Baum hocken. Doch unsere gute Laune haben wir uns dadurch nicht verderben lassen.
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