KARTOFFELKLAU

Die Kartoffeln gingen wieder einmal zur Neige und es wurde Zeit, für Nachschub zu sorgen.
Ich setzte mich mit meinen Freunden zusammen, um zu beratschlagen, was zu tun sei. Zum Hamstern hatten wir keine Lust; einmal war es zu anstrengend und zum anderen war auch meist das Ergebnis unbefriedigend.
Also blieb nur klauen! Die Frage war nur: „Wo?“, denn überall war mit Flurwachen der Bauern zum Schutz ihrer Ernte zu rechnen.
Einig waren wir uns darüber, nicht in der Nähe von Guben zu Mausen, sondern uns etwas weiter weg zu begeben.
Horst war es, der den Vorschlag machte, es in Jänschwalde zu versuchen. Er hatte in dem Nachbarort Drewitz Verwandte und wusste, dass nicht weit vom Bahnhof Jänschwalde recht versteckt Kartoffeläcker waren, richtig einladend zum klauen. Das hatte auch noch den Vorteil, dass, sollte uns eine Flurwache kontrollieren, wir immer sagen konnten, wir kommen von den Verwandten aus Drewitz.
Seinem Vorschlag folgend, begaben wir drei, Horst, Manfred und ich, uns am Sonntag sehr früh zum Bahnhof und fuhren, ausgerüstet mit drei großen Rucksäcken und einem kleinen Bollerwagen, mit dem Zug nach Jänschwalde.
Es begann gerade zu Dämmern, als wir dort ausstiegen. Wir hatten etwa eine und eine halbe Stunde Zeit, denn wir wollten ja mit dem Gegenzug aus Cottbus wieder zurück nach Guben.

Etwa einen Kilometer weit ging die Straße nach Drewitz über offenes Gelände, bevor nach rechts ein Feldweg abzweigte, der zu einem, durch Buschwerk gedeckten, Kartoffelacker führte. Hier waren wir vor Überraschungen so gut wie sicher. Dennoch schlugen unsere Herzen vor Aufregung bis zum Halse, als wir begannen, unsere Ruchsäcke zu füllen. Auf dem fruchtbaren Boden hatten die Kartoffeln gut angesetzt. Die Stauden, die wir ausrissen, waren voll mit herrlich großen gelben Knollen. In kürzester Zeit hatten wir unsere Rucksäcke gefüllt und den Rollfix beladen. Flott machten wir uns auf den Rückweg, denn die Zeit drängte.
Wieder auf der Straße, konnten wir, es war ja offenes Gelände, schon von Weiten sehen, wie der Zug angedampft kam. Jetzt hieß es, einen Zahn zulegen, wenn wir noch mitkommen wollten. Im Dauerlauf sausten wir die Landstraße entlang. Horst und Manfred zogen den Rollfix und ich passte hinten auf, dass die Rucksäcke oben blieben.
Wir waren kurz vor dem Bahnhof, da passierte es. Mein Rucksack kam ins rutschen. Im Rennen versuchte ich, ihn wieder hinzurücken. Leider vergeblich! Obwohl ich mich doll anstrengte, konnte ich das schwere Ding nicht bewältigen und es fiel, zehn Meter vom Bahnhof entfernt, vom Wagen. In diesem Augenblick fuhr auch der Zug in den Bahnhof ein.
Jetzt erhielt ich die Quittung dafür, dass ich auf dem Kartoffelacker nicht genug bekommen hatte.
Dadurch war ich als letzter fertig geworden, weshalb mein Rucksack als Oberster auf dem kleinen Wagen zu liegen kam. Jetzt lag er auf der Straße.
Er war so schwer, dass es mir allein einfach nicht gelingen wollte, ihn aufzuheben. In hektischer Hast schleifte ich ihn deshalb an den Riemen über das Pflaster der Strasse, doch bevor ich den Bahnhof erreicht hatte, setzte sich der Zug bereits in Bewegung und fuhr ohne mich davon.
Horst und Manfred, ganz darauf konzentriert gewesen, den Zug zu erreichen, hatten überhaupt nicht mitbekommen, was hinter ihnen geschehen war. Sie sausten durch die Sperre, hievten das Wägelchen in den Packwagen und sprangen in ein Abteil. Sie bemerkten leider zu spät, dass ich noch gar nicht da war. Es blieb ihnen, so sagten sie mir später, auch nicht mehr die Zeit, den Bahnhofsvorsteher darüber zu verständigen, dass noch einer fehlte.
So stand ich denn durchgeschwitzt, den Rucksack vom über die Strasse schleifen doch recht ramponiert, auf dem Bahnsteig, sah mit Bitternis dem entschwindenden Zug mit seinen roten Schlusslichtern hinterher und wünschte meinen Freunden die Krätze an den Hals.
Ich hätte vor Wut heulen können, doch das nutzte mir nun auch nichts mehr. Ich saß auf dem Bahnhof Jänschwalde fest!!!
Der Bahnhofsvorsteher eröffnete mir, dass der nächste Zug nach Guben erst Nachmittag um 2 Uhr fuhr. Ich musste mich also notgedrungen auf eine Wartezeit von gut 5 Stunden einrichten.
Anfangs saß ich auf der Bank vor dem kleinen Bahnhofsgebäude in der Sonne. Als mir das langweilig wurde, begab ich mich ins Dorf, um mich dort ein wenig umzusehen. Mich begann auch der Hunger zu plagen und ich wollte versuchen, etwas Essbares aufzutreiben. Das schien aber nicht einfach zu sein, denn auf den Gehöften, an denen ich vorbei kam, herrschte sonntägliche Stille.
Auch in der Kirche, deren Turm unübersehbar die dörflichen Anwesen überragte, war alles ruhig.
Nur im Pfarrgarten, der zur Strasse hin durch eine undurchdringliche Hecke abgegrenzt war, stand der Herr Pfarrer im Ornat auf der Leiter und pflückte Pflaumen.
„Entschuldigen sie, Herr Pfarrer“, wandte ich mich an den Geistlichen hoch über mir, „mir ist der Zug vor der Nase weggefahren. Der nächste fährt erst am Nachmittag. Ich habe leider nichts zu Essen mit. Ob sie mir wohl ein paar Pflaumen abgeben könnten, damit ich etwas in den Magen bekomme?“
Mit gesalbter Stimme ließ mich der Diener Gottes auf Erden wissen, und dabei hatte ich den Eindruck, dass er das wirklich wohlgefällig meinte: „Mein Sohn, du kannst dir gerne die Pflaumen unten in der Hecke aufsammeln, die mir beim Pflücken hinuntergefallen sind!“
Nachdem ich mir einige der schrumpeligen und überwiegend madigen Pflaumen aus dem struppigen Unterholz geklaubt hatte, war mir der Appetit auf Pflaumen vergangen. Ich zog weiter, wobei ich innerlich vor mich hin fluchte und mich für diese erbärmliche Gottesgabe bedankte.
Bei meinem weiteren Streifzug durch den Ort kam ich an einem Gehöft vorbei, das zur Strasse hin durch einen hohen Maschendrahtzaun abgegrenzt war. Ein großer Schäferhund sauste auf mich zu und kläffte mich an. Alle meine Versuche, ihn zu beruhigen, schlugen fehl.
„Ajax, aus!“
Sofort ließ der Hund von mir ab und lief zu dem jungen Mädchen, das aus dem Haus gekommen war. Sie kam zum Zaun, gefolgt von dem jetzt ganz braven Hund, schaute mich freundlich an und sagte recht kumpelhaft: „Du brauchen keine Angst zu haben. Er macht immer so einen Radau, wenn ein Fremder vorbei kommt. Aber er tut nichts.“
Nach einer Weile fragte sie mich unverblümt: „Hast du Hunger, möchtest du etwas essen? Wenn du willst, komm rein. Vom Mittag sind noch ein paar Pellkartoffeln und etwas Quark übrig.“
Ich weiß nicht, warum sie mich einlud! Vielleicht hatte sie Mitleid mit mir mageren Städter und wollte mir etwas Gutes tun? Vielleicht gefiel ich ihr? Aber vielleicht war sie auch nur allein zu Haus, fühlte sich einsam und wollte bloß etwas Gesellschaft?
Egal! Ich nahm ihre Einladung an und bereute es nicht.
Sie bat mich, in der Veranda Platz zu nehmen und servierte mir die Reste ihres Mittagessens. Ich fühlte mich wie im Schlaraffenland.
Da sieht man es wieder einmal, dachte ich bei mir und strich mir zufrieden über den vollen Bauch, nicht der barmherzige Gott, sondern eine gute Fee hat sich meiner in der Not angenommen.
Und es war keine schemenhafte feingliedrige Fee im weißen Schleierkleid gewesen, wie im Märchen, die mir die Erfüllung dreier Wünsche versprach, sondern eine reale „Fee“ in der Gestalt eines derben Bauernmädchens, die ohne mystisches Brimborium einfach nur meinen Hunger gestillt hatte.
Ein Blick zur Kirchturmuhr, die man von der Veranda aus sehen konnte, zeigte mir, dass es Zeit war, aufzubrechen.
Ich verabschiedete mich bei meiner netten Gastgeberin, bedankte mich für dir reichliche Bewirtung und fragte höflichkeitshalber, ob ich etwas schuldig wäre.
Sie winkte nur ab und wünschte mir eine gute Heimfahrt. Sogar der Hund wedelte vertraulich mit dem Schwanz, als ich den Bauernhof verließ.
Als ich endlich im Zug saß, atmete ich erleichtert auf. Bisher war ja alles noch gut gegangen. Jetzt kam es nur noch darauf an, die Kartoffeln in Guben ohne Probleme nach Hause zu bekommen.
Es hatte sich eingebürgert, dass die Gubener, die aus Richtung Cottbus von Hamstertour kamen, ihre Sachen am Reipo-Sportplatz aus dem Zuge warfen, wo sie von Verwandten oder Bekannten in Empfang genommen wurden. So entging man den Kontrollen auf dem Bahnhof und eventueller Beschlagnahme der Hamsterwaren. Dieser Trick war möglich, weil der Zug dort in einer Kurve eine Steigung überwinden musste und deshalb sehr langsam fuhr. Diese hohe Bahnböschung wurde darum damals auch der Hamsterberg genannt.
Erwartungsvoll spähte ich deshalb am Hamsterberg aus dem Zug, und war erleichtert, als ich dort meine Freunde winken sah. Der Sack mit den Kartoffeln, von mir aus dem Abteil gestoßen, rollte unbeschadet den Abhang hinunter, wurde von meinen Freunden auf das Wägelchen geladen und zu mir nach Hause gebracht. So hat alles noch ein gutes Ende gefunden.
Um einen Sack Kartoffeln und ein paar Erfahrungen reicher, war ich nach einem langen, abenteuerlichen Tag wieder Daheim.
Die geklauten Kartoffeln reichten uns knapp eine Woche. An die dabei gewonnenen Erfahrungen kann ich mich heute noch lebhaft erinnern!
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