EINSEGNUNG 1942

In der 7. Klasse der Klosterschule begann für uns der Konfirmationsunterricht. Es war für mich eine ganz neue Erfahrung, von einem Pfarrer unterrichtet zu werden. Pfarrer Kortens, so hieß unser Religionslehrer, begrüßte an der Tür zum Klassenraum zu Beginn jeder Religionsstunde einen nach dem anderen von uns mit Handschlag. Für ihn war es der Ausdruck eines sehr engen Verhältnisses eines Seelenhirten zu den Schäfchen seiner Herde. Für uns war es ekelerregend, denn der Daumen der rechten Hand, die er uns reichte, war schwammig aufgedunsen. Unter uns sprachen wir nur von „Pastors Kartoffelbrei-Daumen“. Ich bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte, und jeder von uns versuchte, wenn es irgendwie ging, den Handschlag zu vermeiden.

Eine Religionsstunde war kurz und Pfarrer Kortens bemüht, uns in dieser Stunde so viel wie möglich von der christlichen Lehre zu vermitteln. Dabei ging es ihm nicht darum, dass wir das, was er uns vermittelte, geistig aufnahmen. Vielmehr war er bestrebt, uns so viel wie möglich zu diktieren. Es schien ihm zu unsicher, seine Arbeit nur am geistigen Zuwachs unseres christlichen Wissens zu messen. Er hielt es für unanfechtbarer, als Messlatte seines Tätigseins die Anzahl der von uns beschriebenen Seiten zu nehmen. Das Tempo, welches er dabei vorlegte, erhöhte er noch dadurch, dass er beim Diktieren Abkürzungen verwendete. Er diktierte also nicht: „...der Konfirmationsunterricht...“, sondern: „...der Konf – Punkt U – Punkt...“. Für alle in unserer Klasse war es deshalb auch nicht der Herr Pfarrer, zu dem wir in den Konfirmationsunterricht gingen, sondern unser Konf – Punkt U – Punkt.
Ich war sehr froh, als ich zum letzten Schuljahr von der Klosterschule in die Pestalozzischule umgeschult wurde und dadurch einen neuen Religionslehrer erhielt. Der Religionsunterricht wurde hier nicht in der Schule, sondern in der kleinen Kapelle Pestalozzi– Ecke Cockerillstraße durchgeführt. Hier herrschte kein so strenges Regime, wie in der Klosterschule bei Konf – Punkt U – Punkt. Der unterrichtende Pfarrer, Herr Damus, war ein väterlich-gütiger Typ, etwas behäbig und schon leicht vertrottelt. Weder unsere üblichen kleinen Unge-zogenheiten noch die bösartigen Streiche opponierender Schüler konnten ihn aus der Ruhe bringen. Er machte seinen Unterricht und damit basta. Ob wir dabei etwas lernten oder nicht, überlies er dem unergründlichen Willen Gottes.
Bevor wir zur Konfirmation zugelassen wurden, mussten wir uns einer Prüfung unterziehen, um nachzuweisen wie Bibelfest wir im Konfirmandenunterricht geworden waren und wie gut der Pfarrer es verstanden hatte, uns die Episteln des Alten und Neuen Testaments einzubläuen. An dieser Prüfung konnten auch die Eltern und andere Verwandte teilnehmen und sich gegebenenfalls in der Öffentlichkeit daran erfreuen, wie brav und wie klug ihre Zöglinge doch waren. Dem trug auch der Pfarrer Rechnung. Hier zeigte sich auch seine ganz reale irdische Bezogenheit. Er veranlasste uns bewusst, gegen das göttliche Gebot: „Du sollst nicht lügen“, zu verstoßen, um selbst vor der Öffentlichkeit zu glänzen. Er verlangte, dass wir uns alle melden sollten, wenn er eine Frage gestellt hatte. Nur sollten sich die, die es wussten, mit der rechten Hand und die, die es nicht wussten, mit der linken Hand melden. Mit diesem Trick, den ein Außenstehender so leicht nicht durchschaute, konnte der Herr Pfarrer aber in zweierlei Hinsicht für sich Erfolg verbuchen: Einmal durch die sehr gute Mitarbeit aller und zum anderen durch das exakte Wissen der von ihm befragten Konfirmanden. Wir hätten großen Spaß daran gehabt, wenn es uns gelungen wäre, alle Prüflinge dazu zu bewegen, sich einmal nur mit der linken Hand zu melden. Das dumme Gesicht des Pfarrers hätten wir gerne sehen mögen, der vor einer Schar von Zöglingen steht, die alle fleißig mitarbeiten, und von denen er trotzdem keinen dran nehmen kann, weil keiner etwas wusste. Leider ist uns dieser Jux nie geglückt, weil es auch unter uns genug Streber gab, die sich mit ihrem Wissen lieb Kind machen wollten.
Nach bestandener Prüfung wurde ich, wie alle anderen meiner Klasse, zur Konfirmation zugelassen.
Das feierliche Ereignis fand am 25. März 1942 in der evangelischen Stadt- und Pfarrkirche von Guben statt und wurde, oh graus, von Pfarrer Kortens zelebriert. Zu guter Letzt mussten wir also alle noch einmal den abscheulichen Kartoffelbrei-Daumen drücken.
Wie es Brauch war, steckten wir in blauen Konfirmationsanzügen, hatten einen Schlips umgewürgt, und als Gubener natürlich einen Hut auf. So ausstaffiert hatten wir die vorderen Reihen der kalten Kirchenbänke, natürlich Mädchen und Jungen getrennt, besetzt und taten so, als lauschten wir andächtig der Predigt.
Dann kam der Höhepunkt der Konfirmation, das heilige Abendmahl. So, wie wir es vorher geübt hatten, gingen wir in Gruppen von fünf Schülern, Mädchen und Jungen im Wechsel, nach vorn, knieten nieder und bekamen auf die herausgestreckte Zunge eine Oblate gelegt, die am Gaumen kleben blieb und einen Schluck sauren Messweines verabreicht, als Symbole für den Leib und das Blut unseres Heilandes.
Ich weiß nicht ob es vorsätzliche Böswilligkeit, oder doch nur die Aufregung war, dass mein Nachbar für uns alle unüberhörbar seine Darmwinde abließ und so, für meine Begriffe recht respektlos, die Würde des Augenblicks beeinträchtigte. Ich schaute, in Erwartung eines göttlichen Donnerwetters, ängstlich nach oben, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass unser Schöpfer eine solche Entweihung seines Tempels ungesühnt hinnehmen würde. Doch nichts geschah, außer, dass der Pfarrer missbilligend den Kopf schüttelte. Wir fünf aber knieten mit hochroten Köpfen vor dem Altar; ein klein wenig, weil wir uns schämten, aber hauptsächlich, weil wir das unbändige Lachbedürfnis, das in uns hochstieg, unterdrücken mussten.
Als alle eingesegnet waren, jeder seine Konfirmationsurkunde mit einem göttlichen Leitspruch erhalten und der Pfarrer sein abschließendes Amen gesprochen hatte, erfüllte noch einmal das Brausen der Orgel das Kirchenschiff und Dutzende heller Kinderstimmen, einige vom beginnenden Stimmbruch schon etwas angeraut, jubelten voller Inbrunst und aus ehrlichem Herzen ihr „...NUN DANKET ALLE GOTT..!!!“, untermalt vom Background des Chores der anwesenden Gäste
Zu Hause hatte meine Mutter alles für eine zünftige Feier vorbereitet und viele Verwandte und Gäste waren gekommen, um zu Gratulieren und Geschenke zu übergeben.

Gäste zu meiner Einsegnung
Ich war glücklich und zufrieden.
Da nahm mich meine Mama beiseite. „Junge“, sagte sie, „zur Einsegnung gehört es auch, dass du bei deinem Vater Abbitte leistest“.
Ich bat also meinen Vater, so wie es der Brauch verlangte, in unser Schlafzimmer, wo wir beide allein und ungestört waren. Mit klopfendem Herzen gab ich ihm die Hand, schaute ihm fest in die Augen und sagte ihm, wobei ich den Kloß, den ich im Halse hatte, herunterwürgen musste: „Lieber Papa, ich möchte mich bei dir für allen Ärger, den ich dir und Mama in der Vergangenheit gemacht habe, entschuldigen und dir versprechen, dass ich mich in Zukunft immer ordentlich benehmen werde“. Gerührt verzieh mir mein Vater, wobei er mir kräftig die Hand drückte.
Beide hatten wir dabei feuchte Augen, mein Vater aus Ergriffenheit, ich
ein wenig aus Reue, aber hauptsächlich, weil mir meine Hand vom Druck meines Vaters schmerzte.
In ausgelassener Stimmung
Die erste Hürde auf dem Wege des Erwachsenwerdens hatte ich nun erfolgreich überwunden. Ich war kein Kind mehr, aber auch noch kein richtiger Mann; doch der Ernst des Lebens hatte für mich begonnen!
Zeugnis über die Teilnahme am Religionsunterricht
Mein Entlassungszeugnis aus der 8. Klasse der Volksschule
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