RAYMOND LEFEVRE

Die kleine Vulkanisieranstalt von Emil Wittchen befand sich in der Kirchstraße 7 in Guben. Dort war Harry Schönknecht, der älteste Sohn einer kinderreichen Familie, die auch in der Grünstraße 1 wohnte, als Lehrling beschäftigt.

Harry Schönknecht

Ich war mit Harry befreundet. Er hatte sich in seinem Betrieb einen alten Treckerschlauch besorgt, mit dem er auf der Neiße her-umpaddeln konnte. Ich hätte auch gerne einen solchen großen Reifen besessen, deshalb begann ich, Harry öfter in der Vulkanisieranstalt zu besuchen.
Der Besitzer des kleinen Betriebes hatte, da es im Kriege an männlichen Ar-beitskräften mangelte, noch einen zivilinternierten franzö-sischen Zwangsarbeiter zur Hilfe bekommen; eine billige Arbeitskraft, die für wenig Lohn schuften musste. Ray-mond Lefevre, so hieß der Franzose, war ein schlanker, etwas blasser Mensch von etwa 32 Jahren. Er kam aus der Nähe von Paris und war in seiner Heimat in der graphischen Industrie tätig gewesen. Deshalb fiel ihm die Arbeit in der schmutzigen, heißen Vulkanisieranstalt recht schwer. Aber er war ein Optimist, der sich nicht so leicht unterkriegen ließ. Er nahm die Dinge, wie sie nun mal waren. Ändern konnte er daran sowieso nichts. Deshalb versuchte er, das Beste daraus zu machen. Er war zum Beispiel eifrig bemüht, die deutsche Sprache zu erlernen. Deshalb nutzte er jede sich bietende Gelegenheit, seine Sprachkenntnisse zu festigen und zu erweitern.
Obwohl es für einen deutschen Jungen in der damaligen Zeit eigentlich unehrenhaft war, sich mit Ausländern abzugeben, besuchte ich meinen Freund Harry gerne in der stinkigen Klitsche, um die Möglichkeit zu nutzen, mich mit Raymond zu unterhalten. Ich fand den Franzosen amüsant, denn er war immer guter Laune, und es war spaßig, zu erleben, wie er gebrochen Deutsch radebrechte.
Natürlich schnappte ich dabei auch einige Brocken der französisch Sprache auf.
Merde – Scheiße – war das erste Wort, welches ich perfekt beherrschte. Doch das ist wohl überall so, dass man zuerst schmutzige Worte aufschnappt. Auch die Begrüßung mit Bon jour – Guten Tag – ging mir schnell flüssig über die Lippen. Auch das ‚Käse‘ auf französisch Fromage heißt, wusste ich schon. Das hatte ich meinem Großvater zu verdanken, der im 1. Weltkrieg in Frankreich war.
Mein Großvater war ein Witzbold, der mir oft etwas vorflunkerte. So erzählte er gern folgende lustige Geschichte, die er angeblich selbst erlebt hatte, und von der ich auch das französische Wort für Käse abgelauscht hatte.
‚In der Zeit, als wir in Frankreich lagen‘, so begann er seine Erzählung immer, ‚wollte ich mir einmal Käse kaufen. Die kleine Verkäuferin verstand aber kein Wort Deutsch und ich kein Wort Französisch. Vergeblich versuchte ich ihr klarzumachen, was ich wollte. Sie wiederum war geduldig bemüht mir meinen Wunsch zu erfüllen. Sie zeigte mir Schuhkrem und Seife, Tabak und Briefpapier; nur Käse, den zeigte sie mir nicht. Endlich hatte ich die Geduld verloren. Ich wendete mich zum Gehen und machte meinem Ärger mit der Bemerkung Luft: Ach, leckt mich doch am Arsch!! Da ging ein verstehendes Lächeln über das Gesicht der Verkäuferin, und mit den Worten: Aaaah, Fromage, Fromage!! griff sie hinter sich ins Warenregal und gab mir, was ich gewollt hatte, K ä s e !‘ Das Wissen aus dieser Geschichte kam mir also zugute.
Stolz war ich jedoch, als ich Raymond nach fleißigem Üben eines Abends fragen konnte: „Finit Trawail Aujourd’ Hui?“, was soviel bedeutet wie: „Fertig mit der Arbeit heute?“ Ich freute mich sehr, als er darauf „Oui, Oui“ – Ja, Ja – antwortete.
Es dauerte nicht lange, und wir nannten uns gegenseitig Mon ami, mein Freund.
Gemeinsam träumten wir davon, was wir tun würden, wenn der unselige Krieg einmal zuende ist.
Für Raymond war es klar, dass er dann sofort wieder zurück in seine Heimatstadt in der Nähe von Paris gehen würde, um mit seiner Familie glücklich zusammenzuleben und seiner geliebten Arbeit in einem graphischen Betrieb nachgehen zu können. Aus seinen Erzählungen wusste ich, dass er eine jüngere Schwester hat, die etwa in meinem Alter war. Für mich war deshalb klar, dass ich seine Einladung annehmen und nach Paris fahren würde, um ihn zu besuchen und, um seine Schwester kennen zu lernen.
Ich erzählte zu Hause oft von meinen Begegnungen mit Raymond. Meinem Vater war meine Freundschaft mit dem Franzosen gleichgültig. Meine Mutter jedoch bekundete Interesse an meinem französischen Freund und ließ mich wissen: „Wenn du willst, kannst du deinen Freund ja mal am Sonntag zum Kaffee einladen“.
Sie war sich bei diesem Angebot bestimmt nicht des undeutschen ihres Tuns und über die Gefahr im klaren, die sich aus einer solchen Kumpanei mit einem ‚Franzmann‘ ergeben konnte.
Auch Raymond war sich sicher der möglichen Konsequenzen, die sich aus der Annahme dieser Einladung ergaben, nicht voll bewusst. Wenn ja, dann aber mit der festen Absicht, die Folgen auch zu tragen. Jedenfalls war mein Freund Raymond bis zum Kriegsende regelmäßig bei uns zu Gast.
Er wurde trotz Krieg und Nazigesetzen Hausfreund unserer Familie.

Tante Hedwig und Raymond in Forst
Wie ich später erfuhr, war meine Mutter auch seine Geliebte geworden. Als im Februar 1945 die Gubener Bevölkerung die Stadt verlassen musste, ging meine Mutter gemeinsam mit Raymond zuerst nach Forst zu Tante Hedwig und dann auf den Treck. Sie war fest gewillt gewesen, mit Raymond zusammenzubleiben und nicht mehr zu uns zurück zu kommen.
Doch das Schicksal wollte es anders! Bei Weißwasser wurde der Treck kontrolliert, und der Fran-zose und seine deutsche Geliebte wurden ins Gefängnis gesteckt. Meinem Vater, der dem Treck ge-folgt war, ist es zu danken, dass beide wieder freigelassen wurden. Seiner Aussage zufolge war er zum Volkssturm einberufen worden und konnte deshalb seine Frau nicht begleiten. Darum habe er den ihm bekannten Franzosen gebeten, ihr auf dem Treck zur Seite zu stehen.
Dadurch hat meine Mutter die für sie recht heikle Situation un-beschadet überstanden. Sie ging aber nicht mit meinen Vater, ihrem Mann, wieder zurück nach Guben, sondern blieb bei ihrer Entscheidung, sich von ihm trennen zu wollen. Deshalb zog sie nach dem Krieg zu ihrem Vater und zu ihrer Schwester nach Forst.
Ob Raymond unbehelligt geblieben und wie es ihm weiter ergangen ist, darüber ist mir nichts bekannt. Vielleicht ist es ihm gelungen, gesund in seine Heimat zu gelangen, wie er es sich immer erträumt hatte. Sein Versprechen, welches er meiner Mutter beim Abschied gab, sofort nach seiner Ankunft etwas von sich hören zu lassen, hat er aber nicht eingelöst. Die Gründe dafür weiß niemand. Vielleicht war er verheiratet und hatte keine Lust, seine Ehe wegen der deutschen Geliebten aufs Spiel zu setzen. Viel wahrscheinlicher ist aber die Annahme, dass mein ehemaliger Freund Raymond in den Wirren der letzten Kriegstage noch sein Leben lassen musste.
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