FAHRLÄSSIGE TÖTUNG

Die Gubener Zeitung vom 7. Juli 1943 enthielt den mahnenden Hinweis an Eltern und Frontsoldaten, größere Vorsicht mit Schusswaffen walten zu lassen. (Siehe nebenstehendes Faksimile.)

Aus ‚Gubener Zeitung‘ vom 7. 7. 1943 (Faksimile)

Ich bin mir sicher, dass ich es war, der diese Mitteilung mit ausgelöst hat. Und der Tag, an dem es geschah, ist der schwär-zeste Tag in meinem Leben.
Es war am Pfingst-Montag, dem 14. Juni 1943. Der Him-mel war leuchtend blau, und die Sonne schien warm. Mein Freund Karl und ich hatten uns verabredet, einen Spaziergang in die Gubener Berge zu ma-chen, um wieder einmal die herrliche Aussicht vom Bis-markturm zu genießen und die Schecke zu besteigen. Es wäre sicher ein erlebnisreicher Tag geworden. Doch es sollte leider anders kommen
„Werner, willst du mal eine richtige Pistole sehen?“, fragte mich mein Freund, als wir uns trafen, und blickte mich dabei geheimnisvoll an.
Ich war sofort einverstanden, und forderte ihn auf: „Zeig mal her.“
„Ich habe die doch nicht hier“, erklärte er mir, „da müssen wir schon zu uns nach Hause gehen. Der Freund meiner Schwester, der bei uns von der Front auf Heimaturlaub ist, hat eine Belgische Schnellfeuer-Pistole.“
„Ja, wird der sie uns denn zeigen?“, zweifelte ich die Sache an.
„Das ist gar nicht notwendig“, zerstreute Karl meine Zweifel, „er ist mit meiner Mutter und mit meiner Schwester spazieren gegangen und hat die Pistole nicht mit. Die hängt zu Hause im Schrank und wir können sie uns in aller Ruhe ansehen.“

Mein Freund Karl auf dem obersten
Rand des Bismarkturms Mai 1943
Wir nutzten die Gunst der Stunde.
Mir klopfte vor Aufregung das Herz bis zum Halse, als Karl die Pistole aus dem Schrank holte und sie aus der Pistolentasche nahm.
„Du, wir müssen vorsichtig sei, damit nichts passiert“, ermahnte ich Karl.
„Ja, ja, ich weiß schon!“, versicherte mir Karl, entnahm der Pistole fach-gerecht das gefüllte Magazin, zog den Schlitten nach hinten, um das Schloss zu öffnen und die eventuell im Lauf befindliche Patrone zu entfernen und gab mir erst dann die Waffe zum ansehen.
Es war eine Armee-Pistole, Ka-liber 9 Millimeter, silberig glänz-end, und für Einzel- und Dauerfeuer vorgesehen. Ich hielt sie lässig in der rechten Hand, streckte den Arm, zielte auf eine Vase und drückte ab. Ich hatte erwartet, dass der Spannhebel, so wie bei einer Walter-Pistole oder bei einem Revolver, mit einem Klicken vorschnellt und so den Abschuss imitiert, doch bei dieser Belgischen Pistole rührte sich nichts.
„Sag mal, Karl, weißt du, warum der Spannhebel beim Abdrücken nicht vorschnellt?“, fragte ich meinen Freund irritiert.
„Vielleicht haben wir vergessen, die Pistole zu entsichern“, gab er zur Antwort, und probierte am Sicherungshebel herum. Leider auch vergebens. Wir versuchten zwar immer wieder, durch erneutes Spannen, wiederholtes Betätigen des Sicherungshebels, Einführen des geleerten Magazins und andere Manipulationen, das Vorschnellen des Spannhebels zu erreichen, doch bei dieser Pistole blieben alle Versuche ergebnislos.
Wir hantierten noch ein bisschen mit der Pistole herum, aber den richtigen Spaß hatten wir nicht mehr dabei. Deshalb begann ich, die losen Patronen wieder in das leere Magazin zu drücken. Bei dieser Tätigkeit muss ich übersehen haben, das Karl das andere Magazin bereits wieder in die Pistole geschoben hatte. In der Annahme, die Waffe ist noch ungeladen, denn ich hatte ja mein Magazin noch in der Hand, wollte ich zum letzten Mal versuchen, dieses klickende Geräusch des vorschnellenden Spannhebels zu erzeugen, spannte die Pistole, legte sie auf Karl an und drückte ab. Es gab einen gewaltigen Knall. Ich ließ vor Schreck die Waffe fallen. Im Raum waberten Pulverdämpfe. Karl, der auf dem Sofa gesessen hatte, sackte nach hinten um, wurde ganz fahl im Gesicht und sagte mit ängstlich aufgerissenen Augen und schmerzverzerrtem Mund: „Werner, ich glaube, du hast mich getroffen“.
Ich war wie gelähmt vor Schreck. „Karl, das habe ich nicht gewollt“, stammelte ich, „was sollen wir denn jetzt bloß machen?“ fragte ich hilflos.
„Sieh zu, dass du schnell Hilfe holst“, flüsterte Karl mit versagender Stimme. Dann schloss er erschöpft die Augen und rührte sich nicht mehr.
Ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen, zu uns nach Hause. Meine Mutter wurde kreidebleich vor Schreck, als ich ihr atemlos, und selbst noch vor Aufregung zitternd, erzählte, was passiert war.
„Junge“, sagte sie vorwurfsvoll, „du machst uns aber auch immer wieder großen Ärger. Musstest du denn mit diesem gefährlichen Ding herumspielen“. Dann band sie sich ihre Schürze ab und eilte mit mir zur Wohnung von Karl, um zu helfen. Als wir beide dort ankamen, standen alle Türen auf, aber niemand war mehr in der Wohnung.
Mittelstraße 17, das Haus, in dem Karl wohnte
In dem Zimmer, in dem wir mit der Pistole gespielt hatten, roch es noch stark nach Pulverdampf und einige Blutstropfen auf dem Fußboden und auf dem Sofa zeugten ebenfalls noch von dem schrecklichen Vorfall. Karl aber war bereits ins Krankenhaus gebracht worden, begleitet von seiner Mutter, seiner Schwester und ihrem Freund, dem Frontsoldaten, mit dessen Waffe dieses Unglück herbeigeführt worden war. Als ich Karl am nächsten Tag im Krankenhaus besuchte, war dort auch sein Mutter und Schwester. Der Freund der Schwester hatte auf Grund des Vorfalls, er trug ja wegen des fahrlässigen Umgangs mit seiner Waffe einen gewissen Teil Schuld, seinen Urlaub abgebrochen und sich wieder an die Front begeben. Obwohl die Mutter meines Freundes kein einziges Wort des Vorwurfs vorbrachte, bereiteten mir ihre anklagenden Blicke um so größeres Unbehagen. Ich hatte ihren einzigen Sohn lebensgefährlich verletzt, das hatte sie tottraurig gemacht und das konnte ich fasst körperlich spüren. Am liebsten wäre ich vor Reue und Schuldgefühl im Boden versunken.
Todesanzeige, Gubener Zeitung, August 1943
Karl lag mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden, fiebrig glänzenden Augen in dem weißen Krankenbett. Die Kugel hatte ihn rechts getroffen, war an einer Rippe abgeprallt, durch den gesamten Körper gedrungen und im linken Schulterblatt stecken geblieben. Ob-wohl er sofort operiert und die Kugel entfernt worden war, ver-schlechterte sich sein Zustand von Tag zu Tag. Nach Wochen quälender Ungewiss-heit, immer auf Ge-nesung hoffend, ver-starb mein Freund Karl, gerade 15 Jahre alt ge-worden, am 7. August 1943.
Ich hatte einen Menschen fahrlässig getötet! Das war schon schlimm! Aber was noch viel schlimmer war: Dieser Mensch ist mein bester Freund gewesen!


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