UNTER FALSCHEM VERDACHT

Unser Betrieb, der VEB GUß Gubener Eisenwerke, hatte den Auftrag bekommen, den Gasgenerator der Glashütte Fürstenberg zu reparieren, damit wieder mehr Glaswaren produziert werden konnten. Ohne Generator-Gas ging das nicht. Unter anderem musste die Wassertasse des Drehrostes erneuert werden. Sechs Segmente aus Grauguss waren dazu erforderlich. Um sie in unserer Eisengießerei zu gießen, musste unsere Modelltischlerei das Holzmodell dafür anfertigen. Das war keine Kleinigkeit, denn immerhin hatte die Wassertasse einen Durchmesser von rund sieben Meter. Jedes Bogensegment war also etwa 1,85 m lang und 1,00 m hoch.

Ein Kollektiv aus der Schlosserei war wochenlang in der Glashütte auf Montage, unter ihnen auch mein Freund Ernst. Wenn Ernst am Wochenende nach Hause kam, brachte er oft Glaswaren mit. Den Monteuren war es erlaubt worden, sich aus dem Produktionssortiment der Glashütte, das als Ausschussware aussortiert worden war, kostenlos Teile auszusuchen und mitzunehmen. Es waren wunderschöne Sachen, wie Lampenschirme, Vasen, Schalen, Kuchenteller u.ä., und die Fehler waren kaum zu bemerken.
Hinter der Glashütte befand sich zur damaligen Zeit ein großer Lagerplatz, auf dem Kriegsmaterial aus dem zweiten Weltkrieg, vor allem alte Flugzeugwracks und Kraftfahrzeugteile, zusammengetragen worden war. Ernst, ein passionierter Bastler, nutzte die günstige Gelegenheit und baute sich allerhand brauchbare Teile aus, wie Höhenmesser, Uhren, kleine Elektromotoren und ähnliches.
Es ist nur zu verständlich, dass mich interessierte, was aus meiner Arbeit, die ich als Modelltischler geleistet hatte, geworden war.
Ernst erkundigte sich bei der Betriebsleitung der Glashütte, ob wir beide am Wochenende in der Unterkunft der Monteure übernachten könnten und er mir den Generator zeigen dürfe. Er erhielt die Genehmigung.
Gleichzeitig wollten wir die Gelegenheit nutzen, um im ,Goldenen Anker‘, einer Fürstenberger Gaststätte, das Tanzbein zu schwingen.
Als der Sonnabend herankam, ging ich mit meinen guten Sachen zur Arbeit (damals wurde noch Sonnabend bis Mittag gearbeitet), um sofort nach Feierabend zum Bahnhof gehen und nach Fürstenberg fahren zu können. Ernst holte mich vom Bahnhof ab, weil ich ja nicht wusste, wo sich die Glashütte befand.
Zuerst wurde das Quartier bezogen. Anschließend bekam ich durch Ernst eine sachkundige Führung durch den Betrieb der Glashütte. Dann machten wir uns fertig, um zum Tanz zu gehen.
Wie immer zur damaligen Zeit war die Gaststätte brechend voll. Natürlich hatten wir beide als Fremdlinge bei den Fürstenberger Mädchen tolle Chancen. Einige Jungen aus dem Städtchen guckten schon ärgerlich, doch das hielt uns nicht ab und bald hatte jeder von uns sich ein hübsches Mädchen geangelt. Um 22.00 Uhr war Feierabend, denn zur damaligen Zeit war noch Sperrstunde. Da wir Kavaliere waren, begleiteten wir unsere Tanzdamen natürlich nach Hause. Meine Angebetete wohnte in Schönfließ, einem Ort, etwa zwei Kilometer von Fürstenberg entfernt. Heute gibt es diesen Ort nicht mehr, er ist in die Stadt Eisenhüttenstadt eingegangen. Auch führte damals keine Brücke über den Oder-Spree-Kanal, sondern mit einer Seil-Fähre wurde der Personen- und Fahrzeugtransport von einem Ufer zum anderen bewerkstelligt. Ich wurde von Einheimischen darüber informiert, dass der Fährmann nur bis 22.00 Uhr Dienst tat. Danach hing es vom Glück ab, ob man den Kanal überqueren konnte oder nicht. Befand sich die Fähre diesseits, konnte man übersetzen, war sie jedoch am gegenüberliegenden Ufer, musste man warten, bis jemand kam und übersetzte; und das konnte eine Ewigkeit dauern.
Als ich mit meinem Mädchen zur Fährstelle kam, hatten wir Glück. Der Fährmann machte seine letzte Fahrt.
Es war eine laue Sommernacht und deshalb auch schon spät – oder sollte ich besser sagen früh – als ich wieder bei der Fährstelle anlangte. Ich hatte Glück; die Fähre lag vertäut an meiner Uferseite.
Bei der Überfahrt hatte ich genau aufgepasst, wie der Fährmann die Fähre bediente, um es gegebenenfalls bei der Rückfahrt genau so machen zu können. Er hatte mit einem besonderen Haken, den er in das Drahtseil einhakte, welches über den Kanal gespannt war und das Wasserfahrzeug führte, die Fähre per Hand gezogen. Kurz vor der Anlegestelle, die wie ein Bollwerk gestaltet war, löste der Fährmann einen langen hölzernen Hebelbaum aus einer Halterung. Damit drückte er die daran befestigte Plattform, welche die Verbindung von der Fähre zum Ufer herstellte, in die richtige Lage.
Als ich nachts zur Fähre zurückkam, sondierte ich zuerst die Lage. Wie es aussah, war sie nicht besonders günstig für mich. Etwa zweihundert Meter von der Fähranlegestelle entfernt lag ein sowjetisches Fluss-Kanonenboot vor Anker und hatte seine Scheinwerfer genau auf die Fähre gerichtet. Ich begab mich deshalb erst einmal in die, an der Anlegestelle befindliche, Unterstellbude, um zu überlegen, was zu tun sei. Da sie aber voller ,Flatterminen‘ lag und es darin fürchterlich nach Urin stank, hielt ich mich nicht lange darin auf.
Ich entschloss mich, zu handeln!
Angestrahlt vom Scheinwerferlicht des sowjetischen Kriegschiffes schritt ich mutig zur Tat. Vorsichtig begab ich mich auf die Fähre. Dort suchte ich jedoch vergeblich nach dem Haken, mit dem das Wasserfahrzeug fortzubewegen war, und, ach du Schreck, das Drahtseil, welches die Fähre führte, war entspannt und lag auf dem Grunde des Kanals. (Das war, wie ich später erfuhr, notwendig, um zu verhindern, dass andere Wasserfahrzeuge mit dem Seil kollidierten, solange die Fähre nicht in Betrieb war.) Also zurück zum Ufer und nach der Kurbel gesucht, mit der man das Drahtseil spannen konnte. Sie war nirgends zu finden.
Ich wartete. Vielleicht kommt doch jemand, der Bescheid weiß.
Die Zeit verging, aber niemand ließ sich blicken. Langsam wurde mir kalt und auch die Müdigkeit beschlich mich. Ich entschloss mich, die Fahrt auch so zu wagen, möge passieren was da will.
Also hinauf auf die Fähre. die Halteleine gelöst und mit beiden Händen kräftig am Drahtseil gezogen. In dieser heiklen Situation war es mir egal, dass die Flöhe – so nennen die Schiffer die spitzen Drahtenden, die öfter aus alten Drahtseilen herausstehen – mir die Hände zerstachen und ich mir am ölige Seil meine schöne weiße Jacke beschmierte.
Die Fähre entfernte sich vom Ufer und wurde, von mir kräftig gezogen, immer schneller. Immerhin waren etwa vierzig Meter zu bewältigen. Als das gegenüberliegende Ufer in Reichweite kam, erinnerte ich mich voller Schreck an das notwendige Landemanöver mit der Klappe am Anlegebollwerk. Also nach vorn und den Hebelbaum aus der Halterung gelöst. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass diese Klappe doch ein recht beachtliches Gewicht besitzt. Obwohl ich mich mächtig anstrengte, konnte ich sie nicht halten. Der Hebelbaum schwang nach oben und die Klappe schlug nach unten und hing in ihren Scharnieren vor der Fähre. In diesem Moment war auch das Ufer erreicht und ungebremst knallte die Fähre gegen die Uferbefestigung an der Anlegestelle.
In meinem Kopf hämmerte nur der eine Gedanke: ,Rette sich wer kann!!!‘
Mit einem schnellen Sprung war ich von der Fähre am Ufer. Was mit der Fähre geschah, war mir in diesem Augenblick völlig egal. Erst später machte ich mir Vorwürfe, dass ich so Leichtsinnig gehandelt hatte.
Ohne mich noch einmal umzublicken rannte ich, so schnell mich meine Beine trugen, die Straße nach Fürstenberg zurück. Völlig außer Atem kam ich bei der Glashütte an, haute mich auf mein Lager in der Monteurunterkunft und versuchte, mich etwas zu beruhigen.
Am nächsten Morgen fuhren wir wieder nach Guben zurück. Während der Fahrt erzählte ich Ernst voller Dramatik mein nächtliches Abenteuer. Ein wenig bange war mir immer noch, aber als junger Mensch kann man so etwas schnell verdrängen.
Als ich Montag wieder an meiner Hobelbank stand, war das Erlebnis vom Sonnabend nur noch eine vage Erinnerung. Plötzlich ging die Tür zur Modelltischlerei auf. Unser Werkdirektor, Herr Albrecht kam, begleitet von einem Unbekannten, herein, deutete auf mich und sagte: „Das ist er!!“. Der Unbekannte entpuppte sich als Kriminalist. Er forderte mich auf, zur Klärung eines Vorfalls mit ihm ins Amt zu kommen.
Sofort stand mir wieder mit aller Deutlichkeit mein Fürstenberger Abenteuer von Sonnabend Nacht vor Augen.
,Jetzt bist du dran‘, schoss es mir durch den Sinn, und resigniert ging ich mit dem Beamten mit. In seinem Büro schilderte ich dem Kriminalisten wahrheitsgetreu mein Vergehen mit der Fähre. In seinen Augen widerspiegelte sich Unverständnis für meine Beichte, denn er untersuchte eine völlig andere Straftat.
Er wollte von mir ein Geständnis dafür, dass ich mit Ernst Sonnabend Nacht in der Tischlerei der Glashütte eingebrochen und Werkzeug gestohlen hätte. Alle Indizien würden eindeutig gegen uns sprechen. Haussuchungen bei uns hätten ja die gestohlenen Werkzeuge, Glaswaren und anderes zutage befördert, und die Verstecke, Keller und Schuppen, seien versiegelt worden. Nur die Raumlehre, so die Feststellung des Kriminalisten, wäre noch nicht gefunden worden. Er wollte nun von mir den Ort wissen, wo wir sie versteckt hätten. Während des Verhörs stellte sich dann heraus, dass mit der Raumlehre in Wirklichkeit ein Präzisionsmessgerät – eine Schiebelehre – gemeint war.
Er teilte mir auch mit, wie mir schien mit Genugtuung, dass in den Nagellöchern der Absätze meiner Schuhe, die ich in Fürstenberg anhatte, Sägespäne gefunden worden waren. Seiner Auffassung nach war das der Beweis dafür, dass ich mich in der Tischlerei der Glashütte aufgehalten hätte. Deshalb waren meine Schuhe auch beschlagnahmt worden.
Es ist nur zu verständlich, dass jetzt i c h recht verwundert schaute; denn zu dem, was mir hier zur Last gelegt wurde, hatte ich nun wirklich ein reines Gewissen. Die Herkunft meiner Werkzeuge konnte ich exakt nachweisen. Auch der Ursprung der vorhandenen Sägespäne in meinen Schuhen war schnell erklärt; sie stammten nämlich aus unserer Modelltischlerei, die ich ja mit eben diesen Schuhen am Sonnabend Morgen betreten hatte. Und den Ort, an dem sich die angeblich noch fehlende Schiebelehre befinden sollte, konnte ich ihm ja beim besten Willen nicht sagen, denn ich hatte ja keine gestohlen und konnte deshalb auch keine versteckt haben.
Wie mir Ernst später erzählte, hatte man ihn in der gleichen Weise beschuldigt und dabei die Glassachen und die ausgebauten Flugzeugteile noch als erschwerend mit angeführt.
Wie kam es nun zu diesem Tatverdacht gegen uns?
Die Tischler der Glashütte hatten, als sie am Montagmorgen zur Arbeit kamen, festgestellt, dass der Werkzeugschrank eines Arbeitskollegen, der aber krank war, übers Wochenende von Dieben ausgeräumt worden war. Aufgeregt meldeten sie den Vorfall ihrem Meister, der natürlich den Diebstahl sofort anzeigte. Da wir, Ernst und ich, uns während dieser Zeit dort aufgehalten hatten, fiel der Verdacht logischerweise auf uns, und die Ermittlungen wurden allein in dieser Richtung geführt. Für die Kriminalisten gab es überhaupt keinen Zweifel, dass nur wir die Diebe sein konnten.
Der augenscheinlich recht verzwickte Fall löste sich ganz einfach auf. Zwei Tage später zeigte sich, dass das Ganze eine Seifenblase gewesen und die Kriminalisten einem bösen Irrtum aufgesessen waren.
Der kranke Kollege war am Mittwochmorgen, wieder gesund, zur Arbeit erschienen und hatte sein Werkzeug, das angeblich gestohlen worden war, mitgebracht. Weil er in der Zeit, wo er noch krank war, zu Hause etwas bauen wollte, hatte er es sich selbst geholt, dummerweise aber niemandem Bescheid gesagt.
So wurde aus der Diensteifrigkeit der Kripobeamten eine Posse. Wir konnten darüber aber nicht lachen, denn wir bekamen von den ermittelnden Krimi-nalisten für ihre unbegründeten Anschuldigungen kein Wort der Entschuldigung zu hören. Es dauerte auch Wochen, bis die Siegel entfernt wurden, damit wir wieder in unsere Keller und Schuppen konnten. Der Gipfel der Unverfrorenheit war jedoch, dass der Beamte, der mich verhört hatte, als ich meine beschlagnahmten Schuhe wieder abholte, doch allen Ernstes fragte, ob ich ihm nicht meine guten schwarzen Schuhe verkaufen wolle.
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