ZICHORIEN

Zur damaligen Zeit war ein Auto noch etwas Besonderes. Deshalb fanden sich viele Kinder des Dorfes ein, als ein kleines dreirädriges Lieferauto auf der Dorfstraße in Wallwitz anhielt. Auf dem Dach des Fahrzeuges war eine überdimensionierte ‚Zichorienrolle’ angebracht und sollte schon von weitem darauf hinweisen: Leute, hier könnt ihr Zichorien kaufen. Zusätzlich ließ der Fahrer des Wagens eine große Messingglocke erklingen und versuchte mit dem Ruf: „Zichorien! Zichorien!“, die Dorfbewohner auf sich aufmerksam zu machen. Nach und nach kamen einige Neugierige, um zu sehen, was es da gab. Der eine oder andere kaufte auch eine Rolle Zichorien, die in der damaligen Zeit einen billigen Kaffee-Ersatz darstellte.

Zichorien wird, das weiß ich heute, aus der Wurzel der Wegwarte hergestellt. Geröstet und gemahlen erfüllt sie ihren Zweck als Armeleute- Kaffee.
Da die Kauflust wegen der großen Arbeitslosigkeit gering war, versuchte der Händler auch damals schon, sie mit entsprechenden Werbemitteln anzufachen. Jeder, der eine Rolle Zichorien kaufte, bekam für seine Kinder oder Enkelkinder einen bunten Ausschneidebogen als Zugabe. Daraus konnte eine Pistole gebastelt werden, mit der sich durch einen Paketgummi kleine Pappscheiben verschießen ließen.
Der Händler wusste auch ohne verkaufspsychologischer Analyse, dass Kinder ihre Mütter wirksamer zum Kauf einer Ware bewegen können, als es die beste Werbung vermag.
Der Anreiz über den Ausschneidebogen wirkte, wie der Absatz der Zichorien-Rollen bewies.
Auch ich hatte den Wunsch, eine solche Papppistole zu besitzen. Deshalb rannte ich in unsere Wohnung und versuchte, meine Mama zum Kauf einer Zichorien-Rolle zu bewegen. Doch was bewirkt der Wunsch eines Kindes, wenn die Haushaltskasse schon für das Nötigste nicht reicht? Er bewirkt NICHTS!!!
Was wusste ich mit meinen fünf Jahren schon von den Sorgen einer Mutter, die mit 10,00 Mark Haushaltsgeld wöchentlich auskommen musste. Da war selbst Zichorien-Kaffee-Ersatz ein Luxus, den wir uns damals nicht leisten konnten. Also half auch kein Quengeln, meine Mama blieb unnachgiebig bei ihrem „Nein!“.
Enttäuscht und verbittert zog ich von dannen und begab mich wieder zu dem Zichorien-Auto. Von den Erwachsenen war keiner mehr zu sehen, Käufer und Neugierige waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Mit mir umlagerten nur noch die Kinder das Auto, deren Eltern, so wie meine Mama auch, keine Zichorien-Rolle hatten kaufen können.

Tante Voigt ließ mich oft
mit dem Schaukelpferd ihres schon
erwachsenen Sohnes spielen
Sehnsüchtig schauten wir auf die, für uns un-erreichbar scheinenden, bunten Ausschneidebogen.
Unsere bettelnden Blicke waren auf den Händler gerichtet, der dabei war, seine Einnahmen zu zählen. Sein zufriedenes Gesicht ließ vermuten, dass er trotz der schwierigen Situation ein gutes Geschäft gemacht hatte.
Guter Gewinn kann unterschiedliche Wirkung haben. Den einen macht er noch knauseriger Einen anderen aber kann er unter Umständen vorübergehend zur Freigiebigkeit. Ver-leiten.
Der Zichorien-Vertreter schien zu den letzteren zu gehören. In einem Gefühl von Gutherzigkeit ergriff er ein paar Ausschneidebogen und verteilte sie unter uns arme Kinder, deren Eltern
sich nicht einmal Zichorien leisten konnten.
Hätte es für uns ein größeres Glück geben können, als solche unerwartete gute Gabe?!
Schnell bastelten wir uns die Pistolen. Da auf dem Ausschneidebogen nur drei Pappscheiben als Munition vorgesehen waren, schnitten wir uns aus Pappe noch eine Vielzahl solcher Geschosse, um gut mit Munition versorgt zu sein. Dann vollführten wir mit den Papp-Pistolen wagemutige Duelle.
Harmlos–gefährliche Kinderspiele!
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