WIE ICH BEINAH ERTRUNKEN WÄRE

Mit elf Jahren konnte ich noch nicht schwimmen. Das hatte mehrere Ursachen. Die entscheidende war, dass es in Wallwitz, wo ich bis 1935 gewohnt hatte, außer einem kleinen Graben am Ortseingang, in dem im Sommer die Dorfkinder im flachen, schmutzigen Wasser planschten, keine richtige Bademöglichkeit gegeben hatte.

Einmal sind meine Eltern mit mir zum etwa fünfzehn Kilometer entfernten Boracksee zum baden gefahren. An diesen See habe ich schlechte Erinnerungen. Es gab keinen richtigen Strand, weil er ringsherum mit Schilf bewachsen war. Man musste erst den Schilfgürtel durch eine Schneise überwinden, um an das Wasser zu gelangen. Dann war es gleich so tief, dass ein Kind wie ich, welches nicht schwimmen konnte, kaum richtig zum baden kam. Der See wurde von hohen Bäumen umsäumt. Dadurch hatte es die Sonne schwer, die Wipfel zu durchdringe, so dass es am Ufer kalt und unfreundlich war. Auch die vielen Schlingpflanzen, die dicht unter der Oberfläche schwammen, verleideten einem das Badevergnügen.

Die Brücke über das Schwarze Fliess in Atterwasch
Auch im Schwarzen Fließ, welches durch Atterwasch fließt, bot sich mir keine Gelegenheit, das Schwimmen zu erlernen. Vor der Wassermühle war das Wasser des Fließes angestaut. An einer flachen Stelle fuhren die Bauern oft mit ihren Fuhrwerken ins Wasser, um die ausgetrockneten Räder aufquellen zu lassen und die Gespanne zu tränken. Dort spielten auch wir Kinder gerne, bauten Wasserburgen, fingen Stichlinge und ließen unsere selbstgebauten Boote fahren. Um zu schwimmen, war aber auch das gestaute Fließ zu flach, es sei denn, man schwamm wie eine bleierne Ente auf dem Grunde.
In den Kaltenborner Bergen, etwa einen Kilometer von Atterwasch entfernt, liegt der Deulowitzer See. Es ist ein wunderschöner See mit herrlichem weißen Sandstrand. Ich war mit meinen Eltern oft dort zum baden. Doch auch hier gab es für mich keine Gelegenheit, schwimmen zu lernen. Wer hätte es mir auch beibringen sollen, Vater und Mutter konnten es auch nicht.
Auch in der Neiße, die durch Guben fließt und in der wir oft badeten, hatte ich bisher keine Gelegenheit gehabt, schwimmen zu lernen. Als Kinder gingen wir oft zur Freibadestelle an der Achenbachbrücke. Dort waren am linken Ufer breite Sandbänke angeschwemmt. Zwischen ihnen flossen unterschiedlich breite und tiefe Rinnsale klaren Wassers, in denen man sich wunderbar erfrischen konnte. Das tiefere und stärker strömende Flussbett auf der rechten Seite mieden wir sorgsam, aus Angst vor dem Ertrinken.
An der Neiße gab es noch eine Freibadestelle an der Eisenbahnbrücke gleich hinter dem Turnerwäldchen. Eines schönen Sommertages im August 1939 bot mir mein Vater an, mit ihm dorthin zum Baden zu fahren. Ich stimmte freudig zu, denn solche Angebote meines Vaters waren selten. Auf den Gepäckständer des Fahrrades die Decke geklemmt, im Netz das Handtuch, die Badehose, ein paar Stullen und eine Flasche Essigwasser, machten wir uns auf den Weg. An der Badestelle herrschte reger Betrieb. Im Fluss tummelten sich Mann und Frau und Kind. Auch auf der Liegewiese hinter dem Damm war buntes Treiben. Hier spielte eine Männerrunde Skat, dort waren Frauen am schwatzen, dazwischen spielten Kinder mit einem Ball. Andere, gerade aus dem Wasser gestiegen, lagen nass und bibbernd auf ihren Decken, um sich von der Sonne aufwärmen und die nasse Haut trocknen zu lassen.
Nachdem wir ein genehmes Plätzchen gefunden und unsere Badesachen angezogen hatten, spazierten wir erst ein wenig am Ufer entlang und sahen dem Getümmel im kühlen Nass zu. Am diesseitigen Ufer war der Fluss in einer Breite von etwa zehn Metern verhältnismäßig tief und hatte eine recht starke Strömung. An zwei Stellen des Ufers befanden sich behelfsmäßige Leitern, so dass man bequem ins Wasser konnte. An der Leiter oberhalb der Badestelle war es flacher als an der etwa fünfzig Meter entfernten zweiten. In der Mitte des Flusses waren mehrere größere Sandbänke angeschwemmt worden. Für Nichtschwimmer war es ratsam, an der stromaufwärts befindlichen Leiter ins Wasser zu gehen und sich zu den Sandbänken zu begeben. Um zurückzukehren, musste man versuchen, sich mit der Strömung an die im flachen Wasser stehende Leiter treiben zu lassen. Schwimmern bereitete es aber Vergnügen, sich durch die Strömung von einer Leiter zur anderen treiben zu lassen.
Bald hatten auch wir Lust zum baden. Mein Vater war ein vorsichtiger Mensch. Bevor wir ins Wasser gingen, benetzten wir erst Arme, Beine und Brust. Dann ging es hinein ins erfrischende Nass. Wir begaben uns zu den Sandbänken und vergnügten uns dort eine Weile. Meinem Vater, der ja nicht schwimmen konnte, wurde es peinlich, nur im flachen Wasser der Sandbänke herumzuwaten. Deshalb ging er bald wieder zum Ufer und aalte sich auf der Decke.
Ich verspürte noch keine Lust, aus dem Wasser zu gehen. Mit anderen Kindern tummelte ich mich im flachen Wasser und im warmen Sand. Wie stark die Strömung der Neiße hier war, merkte man daran, dass einem der Sand, wenn man im Wasser stand, regelrecht unter den Füßen weggespült wurde. Es war erstaunlich; wenn man auf einer Stelle stehen blieb, unterspülte einem die starke Strömung und man sank nach und nach immer tiefer in den Flusssand.
Einige Jungen und Mädchen, die schon etwas schwimmen konnten, wateten von der Sandbank ins tiefere Wasser und ließen sich von der Strömung an die Leiter treiben. Das sah so einfach aus, dass ich es auch mal versuchen wollte. Mein Vater stand am Ufer. Das stachelte mich an, ihm meinen Mut zu beweisen. So ging auch ich Schritt für Schritt ins tiefere Wasser, um mich an die Leiter treiben zu lassen. Ich hatte aber mein Können über- und die Kraft des Wassers unterschätzt. Auf einmal hatte ich keinen Grund mehr unter meinen Füßen, wurde unaufhaltsam von den Fluten fortgerissen und versank vor den schreckgeweiteten Augen meines Vaters hilflos in der Tiefe.
Zum Glück war zufällig ein guter Schwimmer in der Nähe. Geistesgegenwärtig tauchte er nach mir. Dank seines Mutes und seiner uneigennützigen Einsatzbereitschaft wurde ich vor dem Tode des Ertrinkens bewahrt. Mein Vater als Nichtschwimmer hätte mir, auch wenn er gewollt hätte, unter diesen widrigen Umständen nicht helfen können. So blieb es ihm erspart, hilflos zusehen zu müssen, wie ich im nassen Element mein junges Leben aushauchte.
Obwohl ich nur wenige Sekunden unter Wasser war, hatte ich das Bewusstsein verloren.
Man sagt, dass einem Angesichts des Todes sein ganzes Leben, wie in einem Film, noch einmal am geistigen Auge vorbeiläuft. Mein Leben muss dafür wohl zu kurz gewesen sein, denn ich kann mich an einen solchen Film beim besten Willen nicht erinnern.
Ich kam erst wieder zu mir, als mein Retter mich gemeinsam mit meinem Vater auf den Kopf stellte und dafür sorgte, dass ich das geschluckte Wasser wieder ausspuckte.
Zum Glück verkraftet man als Kind solchen Schreck recht schnell und ich war bald wieder mobil. Das Baden war mir aber gründlich vergangen. Noch etwas blass im Gesicht und mit einem flauen Gefühl im Magen fuhren wir nach Hause.
Einen festen Vorsatz hatte ich aber nach diesem bösen Erlebnis gefasst: Ich werde so schnell wie möglich schwimmen lernen!!
Ich konnte meinen Vorsatz bald in die Tat umsetzen. Dazu verhalf mir die Tatsache, dass in den fünften Klassen der Volksschule Schwimmen Pflichtfach im Turnunterricht war. Für den Schwimmunterricht der Schulen war hinter der Städtischen Badeanstalt am rechten Ufer der Neiße ein spezielles Schulschwimmbecken errichtet worden. Eine Wasserfläche von etwa fünf mal zehn Meter war von einem Brettersteg umschlossen. Fünf Eisenstangen mit je vier Haken überspannten in einer Höhe von einem Meter die Wasseroberfläche. Wir Schwimmschüler bekamen einen breiten Gurt mit einer Aufhängevorrichtung umgeschnallt. Unser Turnlehrer, Herr Schattkowsky, hakte jeden von uns mit Hilfe eines guten Schwimmers an einen der Haken an der Eisenstange. Zwanzig Schüler hingen wie Köder an der Angel im Wasser und mussten, natürlich nach einem umfangreichen, anstrengenden und langweiligen Trockentraining, nun im Wasser zeigen, was sie gelernt hatten. So gesichert, haben wir viele Turnstunden das Wasser der Neiße aufgewühlt, ohne vom Fleck zu kommen, um unser schwimmerisches Können zu entwickeln. Dann mussten wir, vom strengen Auge unseres Lehrers beobachtet, unter Beweis stellen, dass wir die Schwimmbewegungen mit Armen und Beinen exakt koordiniert beherrschten und zum richtigen Zeitpunkt Luft holten, ohne Wasser zu schluck-en. Erst dann durften wir, jeder einzelne für sich, das Schwimmen probieren, ohne an der Eisenstange zu hängen. In der Nähe des Steges, mehr planschend und prustend als schwimmend, bemühten wir uns, das fünf Meter breite Becken erfolgreich zu überqueren.
Mein Freischwimmer-Zeugnis
Dabei erlebten wir mit Staunen das Phänomen, über das sich jeder Anfänger wundert: Das Wasser trägt dich!
Wir bewegten uns von Mal zu Mal sicherer im Wasser. Unter Aufsicht des Lehrers durften wir schon kleine Schwimmwettbewerbe veranstalten und auch mal Wasserball spielen.
Mein Fahrtenschwimmer-Zeugnis

Der Schwimmunterricht gehörte für die meisten von uns zu den schönsten Unterrichtsstunde. Schon im Juli 1940 konnten wir unser Können unter Beweis stellen.
Die meisten von uns legten innerhalb von zwei Tagen die Bedingungen für das Frei- und Fahrtenschwimmerzeugnis ab, das heißt, wir schwammen eine Viertel- bzw. eine Dreiviertelstunde hintereinander.
Ich habe es selbst erfahren: Ertrinken ist nicht schlimm. Es geht schnell und schmerzlos. Aber besser ist es doch, gut schwimmen zu können. Ich habe mein ganzes Leben lang ausgiebig davon Gebrauch gemacht.
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