BEIM AUGENARZT

Wir hatten beizeiten Abendbrot gegessen. Im Zentraltheater, dem größten Kino von Guben, lief der Film: „Die Frau ohne Vergangenheit“.

Meine Mama, die den Film gerne sehen wollte, hatte meinen Vater überredet, mit ihr dort hinzugehen, und so machten sie sich gegen 19,30 Uhr auf den Weg.

Filmankündigung,
Faksimile aus der Gubener Zeitung
Um diese Zeit war es noch hell, und ich ging deshalb mit ‚Bubi‘ Plagemann noch etwas Spielen. Mit noch ein paar Kindern aus der Nachbarschaft vergnügten wir uns um und auf dem Gelände der NSV* beim Greifen-Spiel. Wir in Guben nannten es Renne Zeck. Zuerst wurde mit dem Abzählreim: ‚Es war einmal ein Mann, der hieß Piephahn, Piephahn hieß er, lange Forze ließ er, es war einmal ein Mann und du bist dran‘ bestimmt, wer als Erster der Greifer war.
Dann ging die wilde Jagd los. Alle sausten auseinander, um vom Greifer nicht erwischt zu werden; denn den, den er mit der Hand berührte, der war als nächster dran, Greifer zu sein. Wir hetz-ten die Kurmärkische Strasse entlang, bogen in die Grünstrasse ein, sprangen über die steinerne Einfassung durch die Hecke in den Park der NSV, sausten um die großen Kastanienbäume herum und waren mit Eifer bei unserem Spiel. Langsam begann es zu dämmern. Da-durch bekam unser Spiel noch einen. besonderen Reiz, denn im Dunkeln machte die Sache bedeutend mehr Spaß. Als mir der Greifer einmal gefährlich nahe auf die Pelle rückte, versuchte ich, ihm zu entkommen, indem ich in Richtung ‚Fleischer Bogsch‘ rannte und kurz vor der Hausmauer mit einem Satz nach rechts im Gebüsch verschwand. Im Dunkel des Parks übersah ich den tiefhängenden Ast einer Kastanie. Schmerzlich bohrte sich die Spitze des Zweiges in den äußeren Winkel meines rechten Auges. Ich hatte den Eindruck, als würden mir Funken aus dem verletzten Auge springen. Von dem unverhofften Anprall stark gebremst, erwischte mich der Greifer, berührte mich mit der Hand und rief: „Du bist!“
In dem Moment war mir das alles ganz egal. „Ich spiele nicht mehr mit!!!“, stieß ich ihn grob zurück, verkündete dann kleinlaut, „ich glaube, ich habe mir ein Auge ausgestochen“, und hielt mir schützend die Hand vor das brennende Auge. Die Meute hörte sofort mit dem Spiel auf und umringte mich interessiert. Als meine Spielkameraden das blutunterlaufene Auge gesehen hatten, begleiteten sie mich anteilnehmend nach Hause
Das NSV – Gebäude, links der Park mit den alten Kastanienbäumen
Als ich mir im Spiegel das verletzte Auge ansah, erschrak ich. Der Augapfel war stark gerötet und ich hatte den Eindruck, als ob ein Holzstück im Augenwinkel stecken geblieben war. Ich ließ mir Wasser in die Waschschüssel und spülte darin die Gesichtshälfte mit dem lädierten Auge. Das linderte etwas den Schmerz. Als sich das Wasser aber vom Blut rot färbte, bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Ich ließ alles stehen und liegen, drückte mir ein Taschentuch auf das Auge und machte mich schleunigst auf den Weg, um einen Arzt aufzusuchen. Das war natürlich um 21,00 Uhr nicht so einfach. Anfangs waren meine Versuche vergebens, zu einem Arzt zu gelangen. Die Praxen, die ich fand, waren alle geschlossen. Ich war schon am Verzweifeln, da fand ich endlich einen Arzt, der zu Hause war, und sich bereiterklärte, sich meine Verletzung anzusehen. Welch ein Glück für mich; es war Dr. Reimers, ein Facharzt für Augenkrankheiten, der in der Kurmärkischen Strasse 5a seine Praxis hatte.
Nachdem er mich untersucht hatte, klopfte er mir beruhigend auf die Schulter. „Da hast du aber noch mal Glück gehabt“, sagte er tröstend, „der Augapfel ist nicht verletzt. Es befindet sich auch kein Fremdkörper im Augenwinkel. Was da so drückt, ist die Verletzung, die der Zweig verursacht hat. Zur Linderung werde ich dir etwas Salbe draufschmieren, und damit sich das Auge beruhigt, tun wir eine schwarze Klappe darüber. Du wirst sehen, in Kürze hast du das Malheur überstanden.“
Die Haare zerzaust, die Sachen vom Herumtoben leicht verdreckt, mit der schwarzen Augenklappe ungewohnt verziert, aber doch frohen Mutes, kam ich zu Hause an. Meine Eltern waren in der Zwischenzeit vom Kino zurückgekommen. Sie hatten das blutig gefärbte Wasser in der Waschschüssel entdeckt und sich große Sorgen gemacht. Sie wollten gerade losgehen, um mich zu suchen, als ich eintrudelte. Natürlich bekam ich einen anständigen Rüffel. Aber etwas Stolz waren sie doch darüber, wie umsichtig und besonnen ich die Angelegenheit gedeichselt hatte.
Was mich aber besonders freute; die Klassenkameraden und die Spielgefährten waren schon ein wenig neidisch auf meine Augenklappe, hob sie mich doch etwas aus der Masse heraus, indem sie mir den Nimbus eines verkappten Seeräubers gab.

* National-Sozialistische Volkswohlfahrt, ein der NSDAP angeschlossener Verband
vorherige SeiteSeite 66 von 164nächste Seite