BLAUE BRIEFE

Ich war als Volksschüler in Guben ein sogenanntes Schlüsselkind. Vater und Mutter gingen beide arbeiten und so war ich am Nachmittag meistens auf mich selbst gestellt. Anfangs, als ich noch kleiner war, war es auch so, dass ich schon früh um halb Sieben mit meinen Eltern das Haus verlassen musste, um nicht zu verschlafen. Ich wurde von ihnen beim Pförtner ihres Betriebes abgegeben, der mich freundlicherweise in Obhut nahm und zur gegebenen Zeit zur Schule schickte. Wenn der Unterricht mal eine Stunde später begann, kam ich in der Regel zu spät. Ich konnte mich einfach nicht darauf einstellen, dass eine Unterrichtsstunde weniger als 60 Minuten umfasste.

Ich war nicht dumm, aber unbändig faul. Ich muss auch ehrlich eingestehen, ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Unter der Maxime: ‚Was man lernt, braucht man nicht, und was man braucht, lernt man nicht‘ war für mich die Schule ein notwendiges Übel. Wenn der Unterricht zuende war, warf ich meine Schulmappe in die Ecke und ging spielen. Meine Schulaufgaben machte ich, wie man sich denken kann, recht lustlos, oft erst spät abends. Von meinen Eltern konnte ich dabei wenig Hilfe erwarten: Erstens fehlte ihnen dazu die Zeit und zweitens auch das notwendige Wissen. Die ganze Einflussnahme, vor allem meiner Mutter, bestand lediglich darin, mich gelegentlich zu fragen: „Werner, hast du schon deine Schularbeiten gemacht!!??“
So verging die Zeit und meine Schulnoten wurden immer schlechter. Die Folge war: Ich bekam in der 5. Klasse, zu den Grossen Ferien, einen blauen Brief mit. Der Klassenlehrer teilte meinen Eltern darin mit, dass meine Versetzung in die 6. Klasse wegen meiner schlechten Leistungen fraglich sei. Die Reaktion meines Vaters darauf war recht unpädagogisch. Ich bekam einige recht schmerzhafte Hiebe mit dem Rohrstock übergezogen, den ich zu diesem Zwecke selbst vom Wohnzimmerschrank holen musste. Meine Mutter dagegen jammerte nur resigniert: „Ach Junge, was soll nur aus dir werden“.
Im zweiten Halbjahr strenger unter Kontrolle gehalten, bemühte ich mich nach den Ferien natürlich etwas mehr und konnte mich dadurch in einigen Fächern so verbessern, dass ich, wenn auch mit Ach und Krach, dann doch in die 6. Klasse versetz wurde.
„Gott sei dank, geschafft!!“
Ich atmete erleichtert auf, zog aber wohl doch nicht die richtigen Lehren; denn ich begann erneut wieder zu schludern. Was kommen musste, kam. Ich bekam auch in der 6. Klasse wieder einen blauen Brief mit. Auch dieses Mal gelang es mir, mich im 2. Halbjahr wieder so durchzuwursteln, dass meine Versetzung, mit mehr Glück als Verstand, schließlich doch erfolgte.
Nun hätten bei mir alle Signalglocken läuten müssen. Aber ich schien unverbesserlich. Der blaue Brief in der 7. Klasse enthielt, neben den notwendigen Bewertungen meiner schlechten Leistungen, deshalb auch den warnenden Vermerk: „...Versetzung s e h r fraglich...“
Zu meiner Schande hatte ich mich schon damit abgefunden, dieses Mal nun wohl doch sitzen zu bleiben, doch wie es schien, hatte das Schicksal mit mir noch einmal ein Nachsehen.
1941 wurden in Guben einige Schulen zu Lazaretten umgerüstet. Aus diesem Grunde veränderten sich die Einzugsbereiche für die restlichen Schulen. So wurden zum Beispiel die achten Klassen der Klosterschule in die Pestalozzi-Schule verlegt.
Wenn man mich nicht versetzt hätte, wäre ich in der 7. Klasse, und so ein Problemfall der Klosterschule, geblieben.
Also lösten die Lehrer der Klosterschule, so nehme ich stark an, das Problem ,schlechter Schüler K r a u s e‘, indem sie mich einfach in die 8. Klasse versetzten und dadurch in die Pestalozzi-Schule abschieben konnte.
Die 8.Klasse gerade so erreicht! Na und!!??
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