FRÜHE KINDHEIT IN ATTERWASCH

Ich war etwa ein halbes Jahr alt, als Mama, Papa und ich von Sommerfeld nach Atterwasch zogen. Mein Papa war in Sommerfeld arbeitslos geworden und auch meine Mama hatte keine Arbeit. So war es besser, bei meinem Großvater in Atterwasch auf der Landwirtschaft zu arbeiten. Da war wenigstens das Essen gesichert und auch die Unterkunft war umsonst.

So vollzog sich mein weiteres Leben auf dem Dorfe.

Das Geburtshaus meines Vaters in Atterwasch

Mein Papa hatte bald wieder Arbeit. Er hatte eine Stelle als Oberputzer in der Tuchfabrik F.W.Schmidt bekommen und fuhr täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Meine Mama arbeitete auf der Wirtschaft meines Großvaters wie eine Bäuerin. Überdies war sie noch als Krankenpflegerin wirksam, denn meine Großmutter war schwer krank und deshalb pflegebedürftig.
Im Hause lebten außer uns noch meine Urgroßmutter, die auf die Achtzig zuging und wenig mithelfen konnte, mein Großvater, der als Zimmermann arbeiten ging und zu Hause wenig mit anpacken konnte, Onkel Erich, der älteste Sohn, der die Männerarbeit auf dem Hof machte und Tante Frieda, die damals erst zwölf Jahre alt und noch Schulkind war. Tante Grete, die zweite Tochter, war verheiratet, wohnte in Schlagsdorf und erwartete ihren zweiten Sohn, so dass von ihr auch wenig Hilfe zu erwarten war.
Das war damals für meine Mama eine schwere Zeit. Die Hauptlast der Arbeit lag auf ihren Schultern. Sie betreute und versorgte ihre kranke Schwiegermutter, bewältigte die gesamte Hausarbeit mit Kochen, Waschen, sauber machen usw., fütterte früh und Abend die acht Schweine, die vier Kühe, das Pferd, die dreißig Hühner und den Hofhund und melkte auch noch täglich.
Für mich hatte meine Mama damals wenig Zeit!
Meine Eltern vor dem Haus in Atterwasch

Anfang 1929 verschlechterte sich der Gesundheitszustand meiner Großmutter bedenk-lich. Dazu kam, dass mein Großvater an einer schweren Grippe erkrankte und bald darauf auch Onkel Erich sich mit einer Lungenentzündung ins Bett legte. Jetzt hatte meine Mama neben der gesamten Hauswirtschaft drei Kranke zu betreuen und sich noch um mich, meinen Papa, der arbeiten ging, und Tante Frieda zu kümmern.
Als Ende Januar Großvater und Onkel Erich endlich wieder auf den Beinen waren, starb meine Großmutter.
Meine Mama war damals fast am Zusammenbrechen, und der Hausarzt, der regelmäßig seine Kranken-besuche machte, empfahl ihr
eindringlich, auch an sich zu denken und nicht die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Als dann alles vorbei war, schlief sie 48 Stunden hintereinander wie eine Tote.
Durch ihre uneigennützige Einsatzbereitschaft genoss meine Mama hohes Ansehen bei allen Familienmitgliedern und mein Papa war sehr stolz auf seine Frau.
Später erzählte sie mir einmal, dass Onkel Erich ihr damals sagte: „Weißt du, Grete, es ist schade, dass ich dich nicht vorher kennen gelernt habe, dich hätte ich auch geheiratet!“.
In dem Maße, wie sich die Lage auf der Wirtschaft normalisierte, hatte meine Mama auch wieder mehr Zeit für mich. Vorher hatte sich Tante Frieda viel um mich gekümmert, hatte mit mir gespielt, mir das Fläschchen gegeben und mich ausgefahren. Sie war es auch, bei der ich meine ersten Schritte tat. Und sie freute sich auch über die ersten Worte, die ich plapperte.
Jetzt nahmen wieder alle an meiner Entwicklung Anteil.
„Nana Kauer“ 1931

In dieser Zeit schien es meinen Eltern notwendig, dass ich, sollte ich gefragt werden, meinen Namen, den Wohnort und mein Alter sagen konnte. Deshalb bemühten sie sich, und alle anderen Mitglieder der Familie auch, weil sie es spaßig fanden, mir das beizubringen. So waren auch alle entzückt, als ich das erste Mal auf die Frage: „Na, wie heißt du denn?“ in kindlichem Kauderwelsch sagte: „Nana Kauer, Atterdatsch, twee Jaar!“, was übersetzt heißt: Ich bin Werner Krause, wohne in Atterwasch und bin zwei Jahre alt.
Eines Abends saßen alle Mitglieder der Familie in der Küche um den weiß gescheuerten Tisch beim Abendbrot. Ich saß bei meiner
Mama auf dem Schoß und ließ mich füttern. Nach dem Essen wurde noch ein wenig geschwatzt und Opa las die Tageszeitung. Die Seiten, die er fertig gelesen hatte, legte er auf den Tisch. Eine dieser Seiten hatte ich mir geangelt. Sie lag verkehrt herum vor mir. Mit meinem kleinen Zeigefingerchen fuhr ich die Zeile entlang, und zum Gaudi aller Versammelten begann ich ernsthaft so zu tun, als ob ich laut vorlesen würde. Die Laute, die ich dabei von mir gab, hörten sich etwa so an: „....iiiiii, aaaaaa, uuuuuu, eeeeee, il, il, il, il, il, il....“.
Erschrocken blickte ich von meinem Tun auf, als die Runde laut zu lachen begann. Doch meine Mama drückte mich und sagte anerkennend zu mir: „Das hast du aber fein gemacht. Bloß die Zeitung musst du richtig herum halten“. Meine Urgroßmutter aber orakelte: „Das wird bestimmt mal ein Lehrer!“, womit sie, so kann ich im Nachhinein sagen, beinahe recht gehabt hätte.
Eines Tages überraschte mich mein Großvater mit einem selbst gebauten Schaukelpferd. Nach Zimmermannsart hatte er ein etwa einen Meter langes Vierkantholz von ca. zehn Zentimeter Kantenlänge genommen, daran links und rechts je ein breites, unten halbrund geschnittenes Brett befestigt, vorn einen aus Holz ausgeschnittenen Pferdekopf angebracht, in dem quer ein dicker Rundstab zum festhalten steckte. An die Seitenbretter hatte mein Großvater Holzlatten als Fußstützen und in der Mitte des Balkens ein Brettchen als Sattel genagelt. Ein altes, ausgefranstes Stück Strick diente als Pferdeschwanz.
Es war kein Kunstwerk, das mein Großvater da zustande gebracht hatte, sondern ein grobes Gebilde, bei dem man das Schaukelpferd mehr erahnen als erkennen konnte. Ich aber hatte unbändigen Spaß, wenn ich darauf wie wild hin und her schaukeln konnte.
Es wird mir immer ein wenig rührselig ums Herz, wenn ich heute nach Atterwasch komme und mein altes Schaukelpferd ganz verstaubt im Schuppen stehen sehe, völlig durchlöchert von den Fraßgängen der Holzwürmer.
Ich entwickelte mich mit meinen zwei Jahren zu einem rechten Wildfang. Wenn ich zu Bett gebracht wurde – ich hatte ein weißes Kinderbett aus Drahtgeflecht, an dem die Hälfte eines Seitenteils heruntergeklappt werden konnte – legte ich mich nicht gleich zum Schlafen, sondern tobte noch ein wenig herum. Das wurde mir zum Verhängnis! Durch mein herum springen lockerten sich eines Abends die Riegel, die das Seitenteil meines Bettes arretierten. Bei einem etwas zu wilden Hopser lösten sie sich ganz. Das Seitenteil klappte mit einem Schwung herunter, riss mich aus dem Bett und schlug mit voller Wucht auf meinen Unterleib. Dadurch hatte ich mir einen Leistenbruch rechts zugezogen und musste zur Operation ins Wilke-Stift nach Guben.
Meine Mama war, trotz der hohen Anforderungen, die an sie damals gestellt waren, wieder Schwanger geworden. Sie war aber zu schwach, um das Kind auszutragen. Sie musste auch ins Wilke-Stift und hatte eine Fehlgeburt.
Die Schwestern in der Kinderstation hatten mich, den kleinen ‚Nana Kauer‘, ins Herz geschlossen. Als sie erfuhren, dass sich meine Mama auch im Wilke-Stift befindet, legten sie mich in ein Bettlaken und brachten mich zu ihr.
„Mein Junge, wie geht es dir denn“, fragte mich meine Mama mit schwacher Stimme, „bist du auch immer schön artig?“ Dabei streichelte sie zärtlich mein strubbliges Haar.
Ich war glücklich, bei meiner Mama zu sein. Ganz fest klammerte ich mich an ihr Bett und forderte unter Lachen und Weinen: „Ich will bei meiner Mama bleiben!“.
Mit sanfter Gewalt gelang es den Schwestern, mich vom Bett zu lösen, zu beruhigen und wieder zurück in mein Krankenzimmer zu bringen. Ihre Gutmütigkeit, das hatten sie erkannt, hätte bald böse Folgen gehabt, denn die Aufregung unserer Begegnung hätte meiner Mama und mir sehr schaden können.
Als es meiner Mama etwas besser ging, kam sie mich öfter besuchen. Bei einem dieser Besuche erzählten ihr die Kinderkrankenschwestern noch diese niedliche kleine Geschichte: Es war am Tage nach meiner Operation. Als die Schwestern kamen, um nach dem Rechten zu sehen, sagte ich ihnen: „Ich muss mal kacken!“.
„Du darfst ruhig ins Bett machen“, forderten mich die Schwestern auf, meinem Drange nachzugeben. Doch ich weinte und erklärte unter Tränen: „Ich darf nicht ins Bettchen machen, Mama schimpft“. Es half kein Zureden. Aus Angst vor dem Ausschimpfen verkniff ich mir die Notdurft. Es blieb den Schwestern nichts weiter übrig, als mich behutsam auf einen Schieber zu heben, wo ich mich unverkrampft entleerte.
Meine Mama und ich konnten das Wilke-Stift gemeinsam verlassen. Wenn alles gut gegangen wäre, hätte ich eine zwei Jahre jüngere Schwester bekommen. So habe ich leider nur eine Narbe in der rechten Leistengegend.


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