DER ARBEITSUNFALL

Hobeln konnte ich nun! Mit Fleiß und Ausdauer hatte ich es gelernt; und wie die Hornhaut an den entsprechenden Stellen der Hände bewies, war mir diese Tätigkeit in Fleisch und Blut übergegangen.

„So“, sagte mein Lehrgeselle eines Tages zu mir, „ich glaube, es wird nun Zeit, dass du lernst, auch an den Maschinen zu arbeiten! Zuerst werden wir es an der Bandsäge versuchen. Hier hast du das Brett. Säge es an der Linie auf Länge“.
Voller Stolz, aber mit vor Aufregung zitternden Händen, setzte ich die Maschine in Gang, führte das Brett an das sausende Bandsägeblatt, wobei ich, noch etwas ängstlich, darauf bedacht war, die Finger nicht zu nahe an das Sägeblatt zu halten, und sägte das Brett zurecht.
„Nun man nicht so zaghaft!“ machte mir mein Lehrgeselle Mut, „es geht doch schon ganz gut.“
In dieser Art wurde ich so nach und nach auch mit den anderen Tischlereimaschinen vertraut gemacht.
Eigentlich etwas ungewöhnlich, durfte ich als Stift schon nach einem Vierteljahr alle Maschinen, also, neben der Bandsäge, auch die Hobelmaschinen und die Drechselbank bedienen. Es erleichterte ungemein die Arbeit und es machte mir auch großen Spaß.
Eines Tages hatte ich ein Holzstück von etwa 35 Zentimeter Länge zu bearbeiten. Mit der größten Selbstverständlichkeit begab ich mich zur Abrichte, um das Erlenstück auf der einen Seite glatt zu hobeln. In meiner Unerfahrenheit hatte ich übersehen, dass vor mir ein Tischler, weil er einen größeren und auch stärker verzogenen Holzklotz abrichten, das heißt glatt hobeln, wollte, an der Maschine einen stärkeren Span eingestellt hatte. Das wurde mir zum Verhängnis. Als ich mit meinem Holzstück die Messerwelle der Hobelmaschine erreichte, schlug das Messer mit einer solchen Wucht dagegen, dass ich es nicht halten konnte und es nach hinten wegflog. Dadurch geriet ich mit dem Zeige- und dem Mittelfinger meiner rechten Hand in die Maschine. Ich verspürte einen harten Schlag an der Hand und der Arm wurde zurück geschleudert. Zuerst dachte ich, das Holzstück wäre mir an die Hand geprallt und hätte diesen Schlag verursacht. Doch dann sah ich das Dilemma. Durch das Messer der Hobelwelle war die Kuppe des Zeigefingers weggeschnitten worden und die Kuppe des Mittelfingers hing nur noch an einem Hautfetzen. Zum Glück hatte unsere Maschine bereits eine moderne Rundwelle. Dadurch war die Angriffsfläche des Messers nur minimal gewesen. Bei einer alten Vierkantwelle hätte ich sicher die halbe Hand eingebüsst.
Wie gewöhnlich bei solchen Unfällen, blutete die Wunde nur gering. Auch Schmerzen hatte ich anfangs keine. Aber der Schreck saß mir in den Gliedern. So rannte ich, die lädierte Hand vor mir haltend, vom schlechten Gewissen geplagt, in ängstlicher Hast zu meinem Lehrgesellen.
„Herr Lehmann, ich bin mit der Hand in die Hobelmaschine gekommen“ eröffnete ich ihm mit verzagter Stimme und hielt ihm die verletzte Hand entgegen.
„Das fehlt mir noch!“, ließ er verlauten und ich sah, dass er seinen aufsteigenden Ärger herunterschlucken musste. „Wie konnte denn das passieren?“ In der Frage lagen Vorwurf und Besorgnis zugleich.
Ich zuckte nur mit den Schultern, wusste ich es doch selbst nicht genau.
„Na, komm, setz dich erst einmal, damit du uns nicht noch umkippst“, forderte er mich auf, nachdem er sich die Wunde, die nun auch stärker zu bluten begann, angesehen hatte. Dann entschied er, nachdem er mir einen sauberen Lappen um die verletzte Hand gewickelt hatte: „Alex, du begleitest den Unglücksraben!“ und schickte mich zum Arzt.
Unser Hausarzt Dr. Schmidt besah sich den Schaden, lächelte mich aufmunternd an und machte sich dann an die Arbeit. Zuerst erhielt ich eine schmerzstillende und eine Spritze zur örtliche Betäubung der Hand. Dann klammerte er die Wunde am Zeigefinger. Am Mittelfinger entfernte er den Nagel und nähte die Kuppe wieder an. „Sie wird schon wieder anwachsen!“, versuchte er, mir Mut zu machen. Dann bekam ich sicherheitshalber noch eine Teternusspritze. Beide Finger im Streckverband, den Arm in der Schlinge, die Krankschreibung für 3 Wochen in der Tasche, entließ mich Dr. Schmidt mit der Aufforderung, jeden zweiten Tag zum Verbinden zu kommen.
Am nächsten Tag brachte ich den Krankenschein zum Betrieb, informierte mit leichtem Bammel meinen Lehrgesellen darüber, dass ich für mindestens drei Wochen arbeitsunfähig sei und ließ reumütig seine Standpauke über mich ergehen.
„Weißt du“, brummte er mich unwirsch an, „ein bisschen mehr Grips hätte ich dir zugetraut. Wie kann man denn mit so einem kurzen Stück Holz an die Abrichte gehen. Das grenzt ja an Idiotie. Ich sage es dir noch einmal, falls du es vergessen haben solltest, die Mindestlänge bei Abrichtarbeiten ist 50 Zentimeter. Schreib dir das gefälligst hinter die Ohren.“ Dann fügte er, schon wieder etwas versöhnlicher, noch hinzu: „Na ja, ungeschicktes Fleisch muss eben runter.“
Es dauerte gute sechs Wochen, bis die Verletzungen so verheilt waren, dass ich wieder arbeiten gehen konnte. Besonders kompliziert war es beim Mittelfinger, der anfangs eiterte. Zwar wuchs die Fingerkuppe wieder an, war aber noch lange Zeit sehr Schmerzempfindlich. Der Fingernagel ist auch nicht so schnell nachgewachsen, was doch recht hinderlich war.
Etwas Gutes hatte mein Arbeitsunfall aber auch. Es war August und herrlichstes Sommerwetter. Da ich ja nicht bettlägerig war, und der Doktor mir täglich mehrere Stunden Ausgang genehmigt hatte, konnte ich, während andere arbeiten mussten, an die Neiße gehen und mich in der Sonne aalen. Auf einem Gummischlauch von einem Traktor, den mir Harry Schönknecht freundlicherweise ausgeliehen hatte, schwamm ich sogar vor dem Neißewehr herum und winkte recht provokant den Spaziergängern am Ufer mit meiner verbundenen Hand.
Heute erinnert nur noch die Narbe an der Fingerkuppe des rechten Mittelfingers und der, wie eine Kralle gewachsene, Fingernagel an meinen damaligen Arbeitsunfall. Aus Spaß lege ich manchmal auch meine Hände mit den Handflächen zusammen und zeige jedem, der es sehen möchte: Ich habe etwas, was fast jeder Tischler oder Zimmermann hat, eine verkrüppelte Hand. Der Mittelfinger ist nämlich auch noch einen Zentimeter kürzer.
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