MEINE MAMA WIRD KUTSCHER

Was wusste ich Anfang der dreißiger Jahre von der Weltwirtschaftskrise? Ich spürte nur an der Lage unserer Familie ihre Auswirkungen auf Deutschland. Seit wir in Wallwitz wohnten, war meine Mama ohne Arbeit. Der Wochenlohn meines Vaters war ständig gesunken und betrug nur noch knappe 20 Reichsmark. Dabei konnte er froh sein, dass er überhaupt Arbeit hatte. Zu danken war dieser günstige Umstand gewissermaßen der Tatsache, dass der Tuchfabrikant F.W.Schmidt sein Jagdrevier in Atterwasch hatte und dadurch mit meinem Großvater bekannt war.

Es war schon eine Kunst, mit 10 bis 12 Reichsmark Haushaltsgeld in der Woche den Unterhalt für eine dreiköpfige Familie zu bestreiten. Mein Vater verlangte auch regelmäßig eine genaue Abrechnung, so dass meiner Mutter für persönliche Dinge nichts übrig blieb. „Weißt du, Grete“, sagte die Tochter unserer Wirtin zu meiner Mutter, als sie das mitbekam, „wir sollten mal überlegen, was wir machen können, damit dir etwas Geld übrig bleibt. Für deine Mühen hast du dir auch ein kleines Taschengeld verdient.“

Waldspaziergang im neuen Samtanzug
Man wurde sich einig, dass die Milch und die Eier, die meine Mutter von unseren Wirtsleuten bezog, in ihrer wöchentlichen Abrechnung einige Pfennige teuerer veranschlagt wurden, als sie wirklich kosteten. Dadurch war es meiner Mutter möglich, sich einen bescheidenen Betrag zusammen zu sparen, von dem mein Vater nichts wusste.
Stolz auf ihre Sparsamkeit, und in ihrer Naivität auf Lob hoffend, zeigte sie ihm eines Tages freudig den von ihr ‚erwirtschafteten‘ Betrag.
Die Reaktion meines Vaters, auf Grund seines körperlichen Gebrechens sehr misstrauisch, war für meine Mutter niederschmetternd. „Wer weiß, wodurch du dir das Geld verdient hast!!??“
Auch die Beteuerungen unserer Wirtsleute, dass das Geld nicht aus zweifelhaften Quellen stamme, brachten ihn nicht so schnell von seiner vorgefassten Meinung ab. Vielmehr unterzog er meine Mutter in der darauf folgenden Zeit vielfach entwürdigender Kontrollen.
Um sich aus dieser versklavenden Abhängigkeit zu befreien, bemühte sich meine Mutter, im Dorf irgendeine Arbeit zu finden, um selbst etwas zu verdienen.
Sie hatte Glück!
Da sie lange Zeit auf der Wirtschaft meines Großvaters in Atterwasch tätig gewesen war, hatte sie gelernt, auch mit Pferdefuhrwerken um zugehen. Das war der Grund, warum sie beim Rittergut saisonbedingt für die Erntezeit als Kutscher angestellt wurde.
Ein weiblicher Kutscher auf einem Rittergut und dabei nicht schlechter als die männlichen, das war schon etwas besonderes, und wurde im Dorf auch gebührend gewürdigt.
Das Wallwitzer Schloss
Ich war sehr stolz auf meine Mama!
Wenn es sich ein-richten ließ, durfte ich auch das eine oder andere Mal mit ihr mitfahren. Dadurch bin ich auch einmal im Wallwitzer Schloss gewesen, als meine Mama mit ihrem Fuhrwerk Kartoffeln an-lieferte.
Das Schloss war lange Zeit Erholungsheim für Lungenkranke gewesen. Die NS–Volkswohlfahrt der Nazis hatte daraus am 25. Oktober 1934 ein Erholungsheim für deut-sche Mütter gemacht, wie in der Gubener Zeitung vom 3./4. November 1934 zu lesen war.
Wir warteten in der Halle des Seitenflügels, bis einige Beschäftigte des Schlosses die Kartoffeln abgeladen hatten. Von diesem Besuch ist mir zweierlei in Erinnerung geblieben: Einmal die erhaben wirkende Ruhe des nur durch die farbigen Glasfenster gedämpft beleuchteten großen Raumes, zum anderen die bedrückende Weite der für mich völlig ungewohnten Räumlichkeiten.
Eines Tages reifte in mir der Wunsch, meine Mama vom Gut abzuholen. Ich setzte mich in der Nähe des Gutstores auf die Umzäunungsmauer und wartete auf sie. Vom Spielen müde, schlief ich ein. Es wurde später und später, doch meine Mama kam nicht. Sie hatte, weil sie an diesem Tage mit ihrem Gespann beim Dreschen eingeteilt war, das Gut durch das hintere Tor verlassen und mich so verpasst. Da es inzwischen dunkel geworden war, begann sie sich um mich zu sorgen und machte sich auf die Suche. Sie fand mich schließlich am Gutstor, wo ich, wieder munter geworden, weinend im Dunkeln saß und mich aus Angst nicht weg getraut hatte.
Der Verdienst meiner Mutter als Kutscher war wirklich nicht besonders hoch, aber er trug in dieser schweren Krisenzeit doch spürbar dazu bei, dass es uns ein klein wenig besser ging.
Meine Mama auf der Schaukel im Schlosspark
Einige im Dorf neideten ihr ihre besondere Rolle als weiblicher Kutscher, die meisten aber bewunderten sie wegen ihrer Courage und zollten ihr Anerkennung.
Mein Vater hätte allen Grund gehabt, auf seine Frau stolz zu sein. Ihm wäre auch keine Perle aus der Krone gefallen, wenn er für sie ein paar lobende Worte gefunden hätte.
Doch er spielte völlig grund-los die gekränkte Leberwurst und tat so, als sei es gar nichts außergewöhnliches, dass sich seine Frau als Kutscher auf dem Rittergut durchzusetzen verstand und etwas zu verdiente. Natürlich kränkte sie diese Missach-tung.
Sie ließ sich jedoch ihren Ärger darüber nicht anmerken. Schließlich war ja auch ihr Selbstbewusstsein in erheblichem Maße gewachsen.
Leider brachte die recht schwere Tätigkeit auf dem Gut für sie nicht nur positive Ergebnisse. Sie hatte auch negative Auswirkungen.
Meine Mutter war wieder schwanger geworden. Sie verlor das Kind, weil es eine Bauchhöhlenschwangerschaft war. Hätte sie das Kind austragen können, ich hätte einen vier Jahre jüngeren Bruder bekommen.
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